Rückgriff auf das Wissen der Welt. Abschluß eines Pilotprojekts: die elektronische Erfassung der Klosterbibliothek Muri-Gries
Bruno Klammer
Aus: Almanach. Jahresbericht der Stiftung Südtiroler Sparkasse (1999), S. 35-39
Für die einen sind Inkasso und Aktien ein leidenschaftlicher Prozeß. Und Bildung ist ein vager »Beruf«. Man kann von »Bildung« nicht leben. »Wieder so ein Doktorle«, sagte mir ein erfolgreicher Firmenchef, wenn die Rede auf jemanden mit abgeschlossenem Hochschulstudium kam. Bis, nach 15 Jahren, alle Erfolgreichen seines eigenen Betriebs auch »billige Dokter« und »sogenannte Gebildete« waren.
Der Mehrwert von Bildungseinrichtungen geht vielen immer noch nicht ein. Wenn auch alle wenigstens durch die primären Unterrichtsstufen gehen, so erreichen doch nicht alle ein ausreichendes Bildungsbewußtsein. In Schulsprechstunden nicken Eltern fleißig und stimmen nach außen hin den Lehrkräften bei. Im Grunde aber denken sie: Man muß später tüchtig sein, und jeder schlechte Schüler, der später ein Genie geworden ist, »widerlegt ein ganzes Schulsystem und eine halbe Bibliothek«.
Was wir Gedächtnis, Erfahrung, Weltanschauung, Bildung, Prinzipien und Verhaltensnormen nennen, sind die Nachschlagewerke, sind die Bibliotheken unseres Geistes. Die auch der »kleine Mann« besitzt. Was in den kleinen Bibliotheken unserer Köpfe und Herzen nistet, ist ein schmaler Ausschnitt von dem, was in den großen Bibliotheken vorhanden und angeboten wird.
Eine Bibliothek ist eine groß angelegte Sammlung. Die nicht nur der Information nach in die Zusammenhänge einführt, nicht nur Daten an Daten reiht. Wer liest, den führt sein Lesen auch in eine bessere Wahrnehmung der Verhältnisse ein. Er bekommt ein feineres und umfassenderes Gespür. Und vermag nach und nach kleinere Bereiche zu immer größeren zu vernetzen. Am Ende steht, was wir Weltanschauung, Fachwissen und Horizont nennen.
In der Zeit von April 1998 bis September 1999 wurden die Bibliotheksbestände der Abtei Muri-Gries in einen EDV-Katalog überführt. Die älteren nach einem wissenschaftlichen Regelkatalog, die jüngeren über ein Berliner Satzrechenzentrum. Eine Bibliothek mit über 70.000 Bänden. Damit wurde ein erster Schritt zur Erfassung des nahezu gesamten Südtiroler Buchbestandes in einem einheitlichen EDVSystem abgeschlossen. Das ehrgeizige Projekt mit dem Kürzel EHB (Erschließung Historischer Bibliotheken) soll es Benutzern künftig erlauben, über ein Computerprogramm jene Bücher, die in 20 Klosterbibliotheken und einer Reihe von Diözesanbibliotheken lagern, problemlos ausfindig zu machen.
Am 26. August 1999 hatte die Sponsorenschaft, die Stiftung Südtiroler Sparkasse, in Muri-Gries zur Abschlußfeier geladen, an der neben Stiftungsvertretern und kirchlichen Bibliotheksträgern unter anderem die Regierungskommissarin Carla Scoz, Landeshauptmann Luis Durnwalder und der Bozner Bürgermeister Giovanni Salghetti-Drioli teilnahmen. Es war eine großangelegte Feier zu Ehren des Buches. Als 1997 die Vorbereitungen zur Erschließung der historischen Bibliotheken starteten, hatten einige den Organisatoren kritisch über die Schulter geblickt: WeIches Interesse können Bibliotheken überhaupt noch wecken? Nach Auschwitz, sagten einige, sei die Vergangenheit tot. Die europäische Kulturgeschichte sei abgebrochen. Andere: Die einzige Bibliothek der Zukunft sei das Internet. Und nicht wenige Pessimisten halten dafür, daß die Fülle von Büchern eine unnütze Eitelkeit sei, und die Zukunft ohnehin Plattheit, Banalität und lektürelose Barbarei bevorzuge.
Bibliotheken sind gewiß nicht dazu da, »mit dem Wissen von gestern die Sackgassen von morgen« zu produzieren. Im Christentum ist es das Buch, die Schrift, auf die programmatisch alles zurückgeführt wird. Der Humanismus entdeckt die Schriften der »Alten« als Ausgangspunkt für seine Erneuerung. Die Aufklärung im 18. Jahrhundert ist ein Weg über die Schrift. Von den Abhandlungen des Abbe de Saint-Pierre vom Ende der Kriege und vom Anbrechen eines allgemeinen Friedens (1713) über die Schriften Voltaires und der Enzyklopädisten bis hinauf zu den Rechenschaftsberichten des Finanzministers Jacques Necker im ausgehenden 18. Jahrhundert bis zu den Pamphleten und Traktaten der Vordenker der Französischen Revolution. Die Liste des Bucherfolgs setzt sich im 19. und 20. Jahrhundert fort. Was geistig wirklich umprägt, wird nicht durch das Gesprochene erreicht, sondern reicht hinab in das geschriebene Wort. Umfangreiche Bibliotheksbestände laden in Südtirol zu einem Streifzug durch die Landesgeschichte ein. In Etappen reist der Leser von den Ursprüngen zur Gegenwart – im Spiegel einer Bibliothek wird dasjenige zusammengefaßt, was zu einem gegebenen Zeitpunkt vorhanden ist.
Die Verwaltung der Welt beginnt damit, daß wir die Aspekte, die Perspektiven, die Bereiche des Wissens verstehen. Und daß wir sie richtig zusammenführen. Eine Einführung in die Geschichte, ein Grundlagenwerk der Physik, eine Darstellung ethischer Modelle und das Abrakadabra erotischer Schriften haben sehr wohl miteinander zu tun. Im Netzwerk der Wahrnehmungen und des Wissens sind sie Teil von miteinander verbundenen Bereichen. Wer sagt, Technik, Religionsgeschichte, Recht, Kunst oder sonst irgend etwas interessiert mich nicht, gibt an, was er in seiner dürftigen Tagesbibliothek, der Tageszeitung und der Tag-für-Tag-Bildung nicht liest. Und zeigt auf, daß seine Hintergrundbibliothek beschränkt ist. Nach der EDV-Erschließung wurde die Stiftsbibliothek der Benediktiner gefeiert wie eine Primiz. Die weiteren Schritte sind nun: Sie muß sich ihre Lorbeeren selbst verdienen. Auch das wie ein Primiziant. Wenn deren Bestände demnächst im Internet erscheinen, müssen Impulse der Forschung, der geistigen Auseinandersetzung, der Vertiefung, der Aufarbeitung von Fragen und anderes mehr von ihr ausgehen, Bibliotheken sind und bleiben der umfassendste und der vollkommenste Frageort der Welt, den das EHB-Projekt zugänglich macht. Die Abschlußfeier wollte nur dies allgemein und unmißverständlich bekunden. Ein kleines Land mit nur wenig Menschen kann nicht alles selbst erdenken und erarbeiten. Dafür hat es einen breiten Wissensschatz nötig, der aufbewahrt, was einzelne nicht aufbewahren oder wissen. Die Abschlußfeier war nichts anderes als der Dank an den Sponsor dafür, daß er einstmals unzugängliche Rosengärten der Historie aufgeschlossen hat und die Siegel von den Schätzen in Südtirol gelöst sind. Überall im Lande sind mittlerweile Pfarrbibliotheken, Orts- und Bezirksbibliotheken eingerichtet worden. Alle Schüler und Jugendlichen im Land haben gelernt, auf Bibliotheken zurückzugreifen. Das Interesse der Öffentlichkeit an der Abschlußfeier in Gries hat auch damit zu tun. Das Kulturgut Buch wird nicht nur wenigen Fachhistorikern, sondern der Masse der jungen Menschen zugänglich gemacht. Mit dem Informatikunterricht an der Schule und mit der Schulbibliothek setzt ein tiefgreifender Wandel im Denkstrom der Zeit ein. In diesen Strom reiht sich, auf höchster Ebene, die Stiftungsinitiative ein. Die kulturelle Verwaltung der Welt beginnt beim Lesenlernen und findet ihren höchsten Ausdruck in Forschungsberichten, Protokollen, Analysen, Darstellungen, Erzählungen – im Diskussionsreichtum des Geschriebenen, der Fachmedien und der Bibliothek.
Was die Stiftung Südtiroler Sparkasse, in Vereinbarung mit den diversen Trägerschaften, angefangen hat, ist kein Rückschritt, sondern ein Fortschritt in der Geschichte. Es gibt Länder, die Südtirol voraus sind. Deren Bibliotheken bereits zu bevorzugten Kulturträgern geworden sind. Auf den ersten Blick und für den nicht genug Weitsichtigen hat die Stiftung etwas Verwunderliches getan. Für den Verständigen hat sie dagegen etwas sehr Weitsichtiges geleistet. Sie hat eine virtuelle Universität mit vielen Außenstellen und Fakultäten gleichsam eröffnet. Bibliotheken sind der riesige Textort unserer Welt. Ausschnitte davon können jederzeit lebendig werden. Die Bibliothek ist ein Beispiel dafür. So gewinnen mitunter antike Mythen in Psychologie, Neuem Roman, der Kunst und der Politik eine neue Bedeutung, greifen Architektur und Literatur auf antike Schriften und Elemente zurück. Die Debatten um Ethik, Religion, Freiheit und Wissenschaft werden immer aus der Tradition heraus neu geführt.