Monasterium sine libris…

von Bruno Klammer

Aus: Kulturelemente. Zeitschrift für aktuelle Fragen, Nr. 17 (Okt. 1999), S. 1-2

Monasterium sine libris, ein Kloster ohne Bücher,
est sicut civitas sine opibus, ist wie ein Gemeinwesen ohne Reichtum …
coquina sine suppellectili, wie eine Küche ohne Geschirr, …
arbor sine foliis, wie ein Baum ohne Blätter.
(Umberto Eco, Il nome della rosa)

Ein vollkommenes Kloster besitzt drei geistige Zentren: Eines für die Klostergemeinschaft selbst, architektonisch dargestellt in Kapitelsaal, Dormitorien und Kreuzgang; einen sakralen Kommunikationsort mit Christus, architektonisch dargestellt in Kirche und Chor; und einen geistigen Vermittlungsort mit der Außenwelt, einen Dialogort mit der Geistigkeit außerhalb des Klosters, dargestellt in der Bibliothek.

Rüstkammern des Geistes
In die Baupläne der Drei Provenzalischen Schwestern sind die Bibliotheken eingetragen als armatorium, als die Rüstkammern des Geistes. Der Mönch hat die Aufgabe, das Evangelium zu verkünden und zu verteidigen. Dazu braucht er die Ausrüstung mit dem Wissen. Südtirol ist eine alte Kultur- und Klosterlandschaft. In ihr war neben der Kunst auch das Bibliothekswesen reich entfaltet. Die Erbbestände dieser Landschaft befinden sich heute in vier unterschiedlichen Trägerschaften: In der Trägerschaft der Diözese (Bibliotheken, Pfarrarchive, Museen, Sammlungen), in der Trägerschaft von Klöstern und religiösen Gemeinschaften, deren Sammlungen den größten Bestand darstellen. Ein weiterer Bestand findet sich in öffentlichen und halböffentlichen Trägerschaften, und viertens finden sich über das ganze Land verteilt wertvolle Bestände in privater Trägerschaft (Stiftungen, Sammlungen, Ansitze, Antiquariate).
1997 initiiert die Stiftung der Südtiroler Sparkasse, auf Anregung ihres Präsidenten, Ex-Senator Dr. H. Rubner, ein Projekt, um diese Bestände aus Vergangenheit, Vergessenheit und Unzugänglichkeit ans Licht zu heben. Zu diesem Projekt gab es eine erste und sehr vereinfachte Vorstellung: alle Bestände des Landes aufzusuchen, sie zu zählen und die Kataloge, nach Möglichkeit, auf ihre Vollständigkeit hin zu ergänzen. Im Geburtsei der Stiftung lag aber eine sehr viel größere Möglichkeit verborgen. Aus ihm konnte – analog zu den großen Verbundsprojekten von Bayern, Baden-Württemberg, Berlin u.a. deutschen Bundesländern – ein Wissenschaftsprojekt werden.

Das Projekt
Damit ergeben sich für das Projekt völlig neue Absichten und Aspekte. Die Erschließung der Bestände nach einem wissenschaftlichen Regelwerk (RAK-WB) sowie die Schaffung eines Südtirol übergreifenden EDV-Katalogs, um die Bestände für Forschung und Wissenschaft verfügbar zu machen. Zu den veränderten Voraussetzungen dieses Projekts gehörten folgende Aspekte: Es ging darum, einen Beirat zu finden, der für ein wissenschaftliches Projekt zu gewinnen war und in dem die Trägerschaften und relevanten Landesinstanzen vertreten waren. Ein Projekt in der sich abzeichnenden Größenordnung musste auch irgendwo angesiedelt werden. Sekretariat, Verwaltung, Verträge, Löhne, Postzuständigkeit, Buchführung und Archiv stellen eine Reihe von verwaltungstechnischen Aufgaben. Als Trägerschaft mit entsprechendem kulturellem Interesse und mit der ausreichenden Verwaltungskapazität konnte das Südtiroler Bildungszentrum, unter dem Präsidenten Dr. Karl Nicolussi-Leck, mit seinem Vorstand gewonnen werden.
Südtirol hatte zum Zeitpunkt der Projektprogrammierung weder in ausreichender Weise geschultes Fachpersonal zur Verfügung, auf das zurückgegriffen hätte werden können, noch gab es eine AnlaufsteIle mit dem Know-how der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DGF) oder der Bayerischen Staatsbibliotheken (BSB) für die Arbeit mit Altbeständen im Buchbereich. Nach einem Briefwechsel des Kulturassessorats mit dem bayerischen Kultusministerium und nach Vorsprachen in München und Wien konnten die BSB für Projektberatung und Projektbegleitung gewonnen werden. Mit Bibliotheksoberrat Ing. K. Kempf, Dr. K. Haller, Direktor der Katalogabteilung, und Dr. Claudia Fabian entwickelte sich ein reger Fachaustausch und ein sehr freundschaftliches Kooperationsklima. Als Trägerschaft, Beirat und die Mitarbeit mit München standen, ergaben sich die nächsten Schritte.

Hardware und Software
Das Projekt musste zunächst mit der entsprechenden Hardware und Software ausgestattet werden. Als entsprechend große und solide Partnerin bot sich die Dator Bruneck-Bozen an. Im Softwarebereich wurden die Entscheidungen des EHB-Projekts und jene der Universitätsbibliotheken (UB) aufeinander abgestimmt. Beide Projekte werden vom selben Sponsor getragen, beide zielen auf den Aufbau eines großen Forschungshintergrunds, und für beide Projekte lag es am Herzen, eine marktführende Softwarefirma für die nächsten Jahrzehnte zu engagieren. Die Wahl fiel auf die Firma BOND Bibliothekssysteme, BöhlIggelheim, mit ihrem Bibliotheksprogramm BibliothecaWin. Dann kam der Augenblick, wo der Stiftung gesagt werden musste: Dies ist das völlig neue Konzept, und dies sind, voraussichtlich, dafür die Haushaltsanforderungen. Nach erstaunlich wohlwollender Absegnung durch die Stiftung, konnte an eine Vertragsvereinbarung mit der Diözese für deren Bestände und an die Auswahl eines Pilotprojekts gegangen werden. Für das Pilotprojekt bot der Abt von Muri Gries, Dr. Benno Malfer, seine Klosterbibliothek an. Nach Sicherung aller Voraussetzungen konnte schließlich die Bewerbung um Mitarbeiter ausgeschrieben werden. Dafür gingen an die 100 Zuschriften aus Italien, Deutschland, Österreich und der Schweiz ein. Aus diesen wurden die ersten Projektmitarbeiter ausgewählt, nach einer Kriterienliste, die für die Bestände vom 15. bis zum 19. Jh. auch die Kenntnis von Latein und Griechisch berücksichtigte.

Eine virtuelle historische Bibliothek
Das Projekt Erschließung der historischen Bibliotheken (EHB) ist ein Wissenschaftsprojekt mit genauen Vorgaben. Es bedeutet einmal den Erschließungsvorgang nach wissenschaftlichen Regeln: RAK-WB, dann den Aufbau eines EDV Katalogs, in dem alle Bestände vereinigt werden sollen. Es handelt sich also um den Aufbau des historischen Teils einer virtuellen Landesbibliothek.
Eine Bibliothek erfüllt nicht nur den Zweck der Bestandserhaltung, sie wird vor allem zum Ort der Bewusstseinsbildung. In einem Beitrag vom 12.02.99 formuliert die Bozner Tageszeitung „II mattino“ dies so: Bibliotheken sind Zentren der Identitätsbildung. Aus der Kulturgeschichte wissen wir: Als Cäsars Truppen 48 v. Chr. die größte und wertvollste Bibliothekssammlung der antiken Welt, die Museion-Bibliothek in Alexandrien, mit 700.000 Buchrollen, niederbrannten, hatte die Welt der Pharaonen geistig aufgehört zu existieren. Archimedes hatte dort seine Pumpe und seine Flaschenzüge konstruiert. Aristarch entwarf dort sein heliozentrisches Weltbild. Erathostenes erklärte die Erde als Kugel und bestimmte ihren Umfang mit 39.706 km. Euklid verfasste dort seine Euklidische Geometrie. Genauso wie die Literatursalons und die Lesekabinette unter Ludwig XV. und Ludwig XVI. die Volksuniversität Frankreichs waren und in diesen die Revolution vorbereitet wurde.
Anlässlich der Eröffnung der Bibliothek des Wissenschaftlichen Museums in Trient, am 27. November 1997, brachte der „Alto Adige“ einen Bericht (28.11.), dessen Kernaussage war: Trient hat keine naturwissenschaftliche Fakultät, deshalb soll mit der Bibliothek ein äquivalentes Anlaufzentrum für naturwissenschaftliche Interessen und Forschungen des Landes geschaffen werden. Im Grunde erfüllt eine wissenschaftliche Bibliothek den Rang und die Rolle einer Parauniversität. Die Erschließung der Bestände nach wissenschaftlichen Regeln bietet den Ausgangspunkt einer solchen virtuellen Universität.

Die Bibliothekserschließung
Eine Bibliothekserfassung ist dann abgeschlossen, wenn alle Bestände in ihr aufgenommen sind und der Nachfrage zur Verfügung stehen. Für Gries waren in der Erschließungsphase daher zwei Aufgaben zu lösen: die Erfassung der Altbestände nach RAK-WB durch ein Fachteam und die Einführung in den EDV-Katalog (auch der neueren Bestände), die vom Team nicht erfasst worden sind. Für die neueren Bestände bot sich die Aufnahme über ein Satzrechenzentrum (Hartmann und Heenemann) in Berlin an, mit dem auch andere deutsche Bibliotheksbünde bereits gearbeitet hatten.
Die Bibliothekslandschaft Südtirols ist als ganze virtuell erschlossen, wenn via Internet alle Bestände abgefragt werden können, und sie ist empirisch erschlossen, wenn die Bestände der Forschung und der Konsultation zugänglich sind. Italien hat schätzungsweise 10.000 Bibliotheken. Davon über 700 im Internet, mit 50.000 Internetkontakten pro Tag. Der Netzanschluss der Bibliotheken in Italien wird vom Servizio Bibliotecario Italiano (SBI) gefördert. Neben der Internetverfügbarkeit betreibt dieser nationale Bibliotheksdienst die Erstellung von Handbüchern und Bibliotheksrepertorien für die einzelnen Regionen. Bis 1999 sind bereits elf Bände erschienen. Auch im Rahmen des EHB-Projekts ist an ein solches Bibliotheksrepertorium gedacht. EDV-Katalog, Internetlegung, Werkzugang und Bibliotheksrepertorium machen die Bibliothekslandschaft Südtirol mobil.

Kulturbewusstsein im Wandel
Das europäische Kulturbewusstsein beginnt sich in den letzten Jahren zu wandeln. In den Jahren zwischen ’90 und ’95 wurden mehrere Fremdbibliotheken in das Franziskanerkloster Bozen überführt, zumeist aus aufgelassenen Klöstern, um die Bestände vor dem Antiquar zu retten. Die Bestände wurden alle rechtmäßig überführt, damals krähte kein Hahn danach. Erst Jahre später, 1998, erscheint in der Münchner tz (Tageszeitung) ein groß aufgemachter Artikel „Mönche klauen Bücher für 500.000.000 (DM). Bibliothek von Bayern nach Italien geschmuggelt“.
Die abendländische Geschichte ist eine Geschichte des Buches. Sie beginnt immer wieder mit dem Buch. Mit dem Abrogans und den Glossarien im 8. und 9. Jh. beginnt die Eindeutschung der antiken Kultur. Mit den Troubadours und der höfischen Literatur schafft sich Europa eine neue und eigenständige profane Kultur. 1447/48 schafft Beato Angelico das Altarbild „Madonna mit dem Kind“. Auf diesem Bild halten Heilige Bücher in den Händen. Ebenso wie auf der Retabel Benozzo Gozzolis von 1456. Die Bücher in den Händen der Heiligen künden ein neues Interesse an Wissen und Wissenschaft an. Der Humanismus beginnt seinen Siegeszug. Päpste und Fürsten sind die großen Sponsoren der Zeit. Der größte unter ihnen, Nikolaus V., stiftet 1450 die heutige Vaticana. Reformation und Reform werden geistig in Schriften ausgetragen und von Fürsten gesponsert.
Das EHB-Projekt ist ein Sponsorprojekt. Ich nehme an, dass es wieder etwas einleitet. „In einem Land, in dem Milch, Yoghurt und Wein fließen und Marlene-Äpfel wachsen, ist für Bibliotheken das Auskommen mit dem Einkommen zunehmend schwerer geworden“ sagt Landesrätin Dr. Kasslatter-Mur anlässlich des Jahrestreffens des Südtiroler Bibliotheksverbandes (BVS) im April 1998 (AA, 18.03.98).

Der Etat
Der Sponsoretat für das EHB-Projekt für das Jahr 1999 beträgt 589 Millionen Lire. Die Rechtfertigung für einen solchen Etat ergibt sich aus ganz unterschiedlichen Perspektiven. L’Espresso vom 15.01. 99 bringt eine aufschlussreiche Statistik. Im Verkauf von Büchern steht Italien an vorletzter Stelle in Europa. Gleichzeitig steigt der Bibliotheksbesuch stark an. Für die 15 in der Statistik erfassten Bibliotheken des Lazio sind für 1996 823.000 Besucher gemeldet, mit 1.165.824 Ausleihungen, hauptsächlich in Lesesälen, und mit einer geschätzten Zuwachsrate für ’97 und ’98 von je 2.5% bis 3% pro Jahr.
Bernard Pivot fordert für Frankreich, dass die „dictature de l’audience“ , die ausschließliche Herrschaft des Fernsehens durch das Buch gebrochen werden muss. Er fordert deshalb eine breite Front von Buch-, Autoren- und Bibliothekssendungen in der Zeit zwischen 18.00 und 21.30 Uhr. Bekannte Sendungen, wie „Bouillon de la culture“, „Apostrophes“, „siecles d’ecrivains“ u.a. sollen auf frühe Abendstunden vorgezogen werden. In ihnen spiegelt sich der geistige Diskurs Frankreichs. Gerade die Vernachlässigung der Lese- und Bibliothekskultur hat in Frankreich wesentlich dazu beigetragen, dass die Oberschulsituation schwieriger geworden ist. Vor allem der Rückgang der starken Leser (les forts lecteurs), mit einer Buchmenge von 25 Büchern im Jahr, von 25% auf 14% bedeutet einen beachtlichen Kulturabfall. Ohne Buch bricht das geistige Interesse zusammen.

Kultur des Buches
Was Buchkultur und Forschungskultur bedeuten, zeigen abschließend drei Beispiele. 1163 verbietet das Konzil von Tours den Geistlichen das Studium der Natur- und Weltgesetze. Damit soll das Aufkommen einer weltlichen, kirchenunabhängigen Kultur verhindert werden. Mit Lenins Literaturgesetzen beginnt die Buch- und Bibliothekszensur in Russland. Ende der siebziger Jahre hat Russland 76.000 amtliche Zensoren. Die freie Buchkultur geht in den Untergrund, und gut zehn Jahre danach ist Rußland, noch vor dem Wirtschaftszusammenbruch, kulturell am Ende. Und als drittes Beispiel: 1939 erlässt der Nationalsozialismus das Bibliotheksverbot für Juden. Damit bricht er ihr Selbstbewusstsein und hebt ihre kulturelle Identität mit Deutschland auf. In den Bibliotheken wird die Vergangenheit kulturell mit der Zukunft verbunden. Wo diese Verbindung abbricht, liegt der Ursprungsort für Missverständnisse und Krisen.
Mit 1918/1919 ist die lebendige und reiche Bibliothekstradition in Südtirol abgebrochen. Südtirol wird für Jahrzehnte auf ein subkulturelles Stadium abgedrängt. Fürstbischof Johannes Geisler hatte dies erkannt und noch während des Weltkriegs 1943 ein Rundschreiben an alle Pfarreien verteilt, mit der Anordnung, Archive und Archivbestände pflichtgemäß zu führen und zu erhalten. Durch das EHB-Projekt und mit der Sponsorschaft der Sparkassen-Stiftung wird dem 50 Jahre später wenigstens für den Buchbereich Folge geleistet. Das Projekt hat viele Träger und viele Förderer. Sponsorschaft, Südtiroler Bildungszentrum, Bestandseigentümer (Diözese, Klöster, Ordensund Religionsgemeinschaften, Private), Landesinstitutionen (Kulturassessorat, Landesarchiv, Amt für Bibliothekswesen), Direktion und Verantwortliche der Bayerischen Staatsbibliotheken, Beirat, Firmen (Hardwarebereich, Softwarebereich) und viele wertvolle Förderer im Hintergrund. Sie sind die Anonymen des Projekts, zum Beispiel in Politik und Kultur, Interessierte, die sich über den Erhalt und die Erschließung freuen. Sie alle zusammen sichern mit ihrem Wohlwollen die Projektarbeit vor Ort und über Ort ab. Keine Investition ist zu groß, wenn die Werte, um die es sich dreht, groß genug sind.