Bestands- und Digitalisierungswerte

von Bruno Klammer

Aus: Kooperation versus Eigenprofil? 25. bis 28. September 2007 in der Technischen Universität Berlin. 31. Arbeits- und Fortbildungstagung der ASpB e.V., Sektion 5 im Deutschen Bibliotheksverband. Hrsg. von U. Flitner, Ja. Warmbrunn und Jü. Warmbrunn. Karlsruhe 2008

Wolfgang Müller zitiert in „Die Drucke des 17. Jahrhunderts im deutschen Sprachraum“ (Wiesbaden 1990) eine Bibliotheksumfrage von 1982. Unter den Angeschriebenen waren in Südtirol Kloster Neustift und die Franziskanerbibliothek Bozen. [1] Aus dem gesamten tirolischen Raum hatte keine der Bibliotheken in kirchlicher Trägerschaft Daten an die Umfrage rückgemeldet. Für Rückmeldungen und Einbindung in übergeordnete nationale und internationale Netzwerke waren die lokalen Voraussetzungen nicht gegeben.

Eine allgemeine Situationsbeschreibung
Nach 1918 wurde Tirol in einen italienischen und einen weiterhin österreichischen Teil aufgespaltet. Bis dahin waren die Bestandsnetze des Landes intakt (Pfarrnetz, Ordensnetze, Verwaltungsnetz, Lesebibliotheken…). Unter der faschistischen Kulturpolitik ab 1922 wurde das historische Bucherbe der neuen italienischen Provinz Alto Adige bewusst ins Abseits gedrängt. Erst mit dem Projekt Erschließung historischer Buchbestände und Bibliotheken (EHB) der Stiftung Südtiroler Sparkasse, mit Sitz in Bozen, gelangen die Bestände ab 1997 wieder ans Licht. Daten zur Stiftung Südtiroler Sparkasse und zu EHB finden sich im Internet unter www.ehb.it

Projektziele
Ziel des Projekts ist zunächst, Bestände aufzuarbeiten, die besonders im „Argen“ liegen bzw. lagen, und sie erstmalig auch für Forschung und Öffentlichkeit verfügbar zu machen. Zu den wichtigsten und reichhaltigsten historischen Bestandsnetzen des Landes zählen Klosterbestände, das Netzwerk der Pfarrbestände und jenes der Nobilität. Dazu kommen Magistratsbestände, Museumsbestände, Sammelbestände u.a. Zunächst beschäftigt sich EHB vor allem mit den großen und am meisten gefährdeten Beständen, vor allem in sich abschwächenden religiösen Trägerschaften. Weitere Ziele werden in der Folge dargelegt.

Die rechtliche und die quantitative Eingrenzung der „historischen“ Buchmasse im EHB-Projekt
D.P.R. vom 16 Mai 2000 Nr 189 (Intesa zwischen Regierung/Kulturministerium und italienischer Bischofskonferenz CEI) und Ergänzung D.P.R. vom 04. Febr. 2005, Nr. 78, bestimmen als Aufnahmegrenze für historisches Buchgut (fondi stonci Art. 4.2, patrimonio storico librario Art 7, 2 und 4, Art 8.1 a u.a.), alles was vom Aufnahmedatum aus 70 bzw. 50 Jahre zurückliegt, soweit es von Erhaltungswert scheint. Dazu kommen Wertbestände ohne Zeitgrenze (Nachlässe von bedeutenden Persönlichkeiten, Fachbestände…, gem. 189, Art. 5,2). Neben der Erhaltungspflicht wird jene der
Katalogisierung vermerkt (Art 6-8, dazu Allegat A). Insbesondere wird die Katalogisierung der Druckwerke des 15. und 16. Jh. nachdrücklich eingeschärft (Allegato A vom 18.04.2000).
Dehnt man obige Gesetzeslage auf alle in Südtirol befindlichen Bestände aus, ohne aktuelle Lesebibliotheken, neuerrichtete Schulbibliotheken etc. zu berücksichtigen, wird eine geschätzte Erschließungsmenge von ca. 1.500.000 Katalogsätzen fassbar. Die Menge ergibt sich aus kirchlichen, privaten und öffentlichen Bestandssichtungen und Datenangaben. An den diversen Bestandserschließungen arbeiten zur Zeit mehrere Institutionen (Landesarchiv, Landesbibliothek, Sonderbibliotheken, Bestandsträgerschaften …). Das aktuell bedeutsamste Erschließungsnetz ist jenes von EHB / Bibliogamma ONLUS.

Bibliogamma Onlus
2001 wurde für die Erschließung eine eigene Sozialgenossenschaft (vom Typus Kulturelle Tätigkeiten) ins Leben gerufen. Zur Zeit arbeiten in ihr ein Projektleiter (P. Dr. Bruno Klammer) und neun Katalogkräfte, alle mit diversen akademischen Fachabschlüssen. Projektförderer ist die Stiftung Südtiroler Sparkasse (gegenw. Präsident Honorarkonsul RA Dr. Gerhard Brandstätter, Gründungspräsident Ex-Sen. Dr. Hans Rubner).
Zu den Bibliogammaaufgaben gehört:
a) Katalogisierung und Bestandsordnung,
b) Projektverwaltung und Genossenschaftsverwaltung,
c) die mediale und wissenschaftliche Darstellung des Projekts (Homepage, PR, Berichte, Projektmaterialien …),
d) die technologische Ausstattung und Betreuung des Projekts,
e) die Verfassung und Herausgabe einer Erschließungsserie zu den Beständen.
Die umfassenden Aufgaben von Bibliogamma halten das Projekt in sich geschlossen und führen es zugleich nach und nach in Bewusstsein und Forschung ein. 27% der EHB-Tätigkelt fließen in obige u.a. Zusatzleistungen. Allein pro Erschließungsbericht muss mit einem Äquivalent zwischen 1.200 und 1.500 Katalogisaten gerechnet werden (23% der Zusatzleistungen).
Fuhrt man alle Ausgabenbereiche (Löhne, Projektspesen, Vertragsspesen, Leistungen…) zusammen und dividiert diese durch 35.000 Aufnahmen im Jahresschnitt, kommt man auf ein Mittel von 11 € pro Aufnahme. Vergleichsberechnungen in der Jahren 2001/2002 haben für ahnliche Projekte, ohne die vielen Zusatztätigkeiten
Aussagewerte zwischen 27.000 und 29.000 Lire ergeben (Richtwert 14,40 €). Die Kostenstabilität von 11 € über so lange Zeit für EHB errechnet sich aus einer Zunahme der Anhänge (mit einem Faktor 0.6 verrechnet), aus der Erfahrung und aus einer relativ hohen Stabilität der Mitarbeiter. Das Anwachsen der Zusatztätigkeiten (Erschließungsberichte, Bestandsordnung, Bestandsbetreuungen bis zum Erschließungsabschluss von Beständen…) konnte hereingebracht werden durch sinkende Ausbildungskosten, geringere Kosten für Arbeitsplatzeinrichtungen, längere Vertragslaufzeiten, kostenentsprechende Lizenzverträge u.ä. Der aktuell verfügbare numerische Erschließungsstand liegt bei ca. 370.000 Katalogeinträgen.

Qualitative Erschließungsaspekte
1. Erschließungsregeln: Die Erschließungsregeln sind für alle Aufnahmegruppen an den unterschiedlichen Standorten einheitlich niedergelegt in „Regelwerk und Beispielsammlung. Kompendium für Projektmitarbeiter“ (M. Schmidt; Katalogisierung nach RAK-WB Alte Drucke, dazu: Haller, Klaus – Popst, Hans, Katalogisierung nach RAK-WB Alte Drucke, 1996). Eine vertiefte Erschließung wird für Tirolensien und einige Sonderbestände durchgeführt (an die 13 % im Gesamtkatalog). Das Regelwerk ist in einigen Punkten inzwischen ergänzt (SpracheinsteIlung, zusätzliche Vergabe von Interessenkreisen). .
2. Aufnahme der Bucheinträge / Exlibris: Zahlreiche Bestände, in einzelnen Fällen mehr als die Hälfte, weisen Exlibris, Besitzvermerke und andere Bucheinträge auf. Außer dass Exlibris ikonographische Artefakte sind, belegen sie Sponsorschaften, Bestandszugehörigkeiten und erhalten uns ebenso wie Handeinträge zahlreiche Zusatzinformationen. Im Museumsbestand von Meran z.B. verzeichnen sie uns eine Reihe von ehemaligen Sammelbeständen, über die wir sonst keine Kenntnisse mehr besitzen (Divisionsbibliotheken, Verwaltungsbestände, Kurhausbibliotheken, Vereinsbibliotheken, Bruderschaftsbestände, medizinische Sammlungen, Sponsorlegate). Selbst in kleineren Beständen, wie im Pfarrbestand von Niederolang, mit 3.331 aufgenommenen Einheiten, finden sich 57 Exlibris. Eine Reihe davon dokumentieren die rechtliche Bestandszugehörigkeit zur Mutterabtei.
3. Signatursysteme: Die bisher ältesten Signatursysteme in EHB folgen den vier Fakultäten, mit Theologie als Grundwissenschaft, Philosophie, Recht und Medizin. Die einzelnen Bestandssignaturen sind schwerpunktbedingte Ausdifferenzierungen dieser Grundwissenschaften. Für inkorporierte Pfarreien gilt zumeist eine Signaturenanlehnung an ihr Mutterkloster. Einzelne Ausgliederungsvorgänge verlaufen den universitären Fachausgliederungen analog, wenn dieser Vorgang später Bibliothekaren auch nicht mehr so ganz bewusst wird und teilweise verzerrt auftritt. Orden mit Grundbesitz und Territorialhoheit unterscheiden sich auch in ihrem Bestands- und Signaturenausbau von den ausschließlich auf Pastoral ausgerichteten Armutsorden, mit ihren Ansiedlungen im städtischen Bereich. Im Franziskanerbestand von Kloster Lechfeld, mit seinen Aufgaben der Volks- und Wallfahrtspastoral, macht der typisch pastorale Bestand der Homilien z.B. 16% des Gesamtbestandes aus (1.981 Werke). Unter „Moral“ stehen 523 Werke (Beichtseelsorge). In Ordensgemeinschaften bilden sich bisweilen Stammsignaturen heraus (für Kapuzinerbibliotheken z.B. oder für Jesuitenniederlassungen, für stark jesuitengeprägte Abschnitte in Pfarrnetzen).
Eine repräsentative Signaturenverteilung am Beispiel des Franziskanerklosters Kaltern:
Homiletik (Homilien): 687 Werke,
Naturwissenschaften – Geographie – Botanik…: 428 Werke,
Kunst (Kunstgeschichte, Artes): 151,
Profangeschichte (Historia profana): 404,
Kirchengeschichte (Hist. ecclesiastica): 423,
Ordensliteratur / Philosophie: 223,
Pilgerliteratur / Mission (spezif. Aufgabenbereich): 228,
Hagiographie (Viten, Legenden…): 370,
Askese (Spiritualität): 553,
Katechese: 489,
Franziskanische Ordensliteratur (ordensspezif. Schwerpunkt): 510,
Tirolensien: 248,
Kirchenrecht (Jus canonicum, Jus ecclesiasticum): 327,
Moraltheologie (Moralia): 455,
Dogmatik: 682,
Kirchenväter (Patres, Patrologie, Auctores ecclesiastici) und Liturgie: 554,
Bibel/ Bibelkommentare (Biblica): 667,
Überwiegend Bücher des 16. Jh. / Kontroverstheologie: 140,
Überwiegend Bücher des 20. Jh. / Enzyklopädien etc.: 519,
Inkunabeln und Cinquecentine: 433.
Aus alten Signaturanlagen fehlen z.B.: Jus civile, Rhetorik (Rhetorica, Poetica, Grammatica…), Casus conscientiae, die unter obigen Signaturen untergebracht sind (Kirchenrecht, Homiletik, Moral). Medizinische Werke, Kosmograhien, Werke des Handwerks, der Landwirtschaft etc. werden unter dem modernen Ausdruck Naturwissenschaften eingereiht. Neusignaturen sind Botanik, Tirolensien. Die Signaturen „Überwiegend Bücher“ sind Signaturzusammenfassungen für die Wertbestände des 16. Jh. bzw. eine unaufgeschlüsselte Massensignatur für das 20 Jh. Signatursysteme sind formale Wiedergaben von Weltbildern. Nach den Signaturrastern wird nicht allein die Buchwelt geordnet, sondern auch die Vergabe von interpretativen Weltsichten genormt.
4. Datenvergleiche: Datenvergleiche geben Aufschlüsse über Bestandsentwicklungen, Bestandsschwerpunkte, Bestandsträger, Bestandsflüsse, Hintergrundströmungen u.a. Einige Auswertungsbeispiele:
a) Datenaufschlüsselungen nach Jahrhunderten: Für alle Bestände belegbar sind die Bestandsexplosionen vom 15. zum 16. Jh. und wiederum für das 18. Jh. Im Verhältnis zum 16. Jh. verzeichnet das 17. Jh. im Allgemeinen zwar nicht numerische, aber anschaffungsprozentuelle Rückgänge (30-jähriger Krieg, Umsichtung in den Verlagsnetzen, ideelle Neupositionierung, Produktions- und Lieferblockaden, Standardisierungen in den Lehrbetrieben der Seminare und der Ordenshochschulen). Die Propsteibibliothek Bozen umfasst einen Bestand von 13.577 Werkeintragungen in EHB. Die Werke verteilen sich über die Jahrhunderte wie folgt: – 1500: 35 (Inkunabeln, 0,3%), 1501 – 1600: 1466 Werke (11%), 1601 – 1700: 899 (7%), 1701 – 1800: 6.747 (49,6%), 1801 – 1900: 2.830 (20%), 1901- Erschließungsabschluss: 1.028 Werke (innerkirchliche Veränderungen, z.B. in den Nachlassverfügungen, Periode des Faschismus). Einen etwas kontinuierlicheren Verlauf in der Bestandszunahme verzeichnet der Franziskanerbestand Kaltern: – 1500: 23 Inkunabeln (0,3%), 1501 – 1600: 425 Werkverzeichnungen, 1601 – 1700: 970 (11,2%, Klostergründung 1638), 1701 – 1800: 1.198 (14,3%), 1801 – 1900: 3.312 (39,5%),1901 – Erschließungsende: 2.458 (29,3%). Klosterlechfeld-Bestand: – 1500: 36 Inkunabeln (0,3%), 1501 – 1600: 517 Werke (4,2%), 1601 – 1700: 1.347 (11%), 1701 -1800: 2.980 (24,3%), 1801 – 1900: 2.907 (23,7%, Säkularisation), 1901 – Erschließungsende: 4.486 (36,6%). Der Inkunabelbestand stellt einen Schnitt aus bewährten Autoren der älteren Zeit und aus der Aufnahme neuerer Autoren des 14. und 15. Jh. dar. Die Werke ab 1500 weisen eine gewisse Vorliebe für neuere, vor allem Reformautoren aus. Der Buchdruck steht ganz wesentlich für den Anbruch einer neuen Zeit. Am deutlichsten zeigen sich die Übergänge an Prozentmultiplikationen. Das Verhältnis vom 15. zum 16. Jh. ist in den Propsteibeständen Bozen 35 Inkunabeln : 1.466 Werken des 16. Jh. Prozentuell ist dies ein Anstieg um das 42-Fache. Für Kaltern gilt ein Verhältnisschlüssel 23 : 425, das 18,5-Fache. Für Klosterlechfeld 36: 517, das 14,4-Fache. In der Durchrechnung der Verhältniszahlen von Jahrhundert zu Jahrhundert erhält man wichtige Einflussfaktoren aus dem historischen Buchhintergrund: Produktion, Verbilligungen, soziokulturelle Umstände, Massenverbreitung, Standardisierung von Werken für Fachbereiche und deren Aufblühen, Bestandsabbrüche infolge von Josefinismus und Säkularisation… Zahlendurchrechnungen ergeben Interpretationsschlüssel im Zusammenhang mit Signaturen, Verteilungen u.a. Faktoren. Das Verhältnis 2.980 für das 18. Jh. : 2.907 für das 19. Jh. ergibt im Lechfeldbestand einen Minuswert. Für die Landesbestände kommt als Berechnungsfaktor hinzu, was in Säkularisation etc. den Beständen entnommen worden ist. Klosterlechfeld steht im bayer. Franziskanerverband. Dieser weist in 31 Klöstern zum Zeitpunkt der Säkularisation 135.755 Werke aus. Im Gefolge der Säkularisation werden diesem Bestand 4.078 Titel in Staatsbesitz übernommen. Von diesen sind heute
nur noch 892 Inkunabeln und 701 Handschriften nachweisbar (dazu M. Schmidt, Erschließungsserie Bd. 3 zu Klosterlechfeld). Zu allen Zahlenverhältnissen ist zu betonen, dass sie sich dem Katalogwachstum entsprechend verändern.
b) Sprachvergleiche: Im Verlauf der Digitalisierung hat sich für Südtirol mehr und mehr die Bedeutung der Sprachzuweisungen ergeben. Seit fünf Jahren arbeitet deshalb EHB auch mit der Spracheinstellung. Die Reformen des Konzils von Trient haben sich für den Tiroler Raum in einer intensiven Pflege und Fortführung des Lateinischen als universaler religiöser Einheitssprache des Katholizismus niedergeschlagen (human. Gymnasien, Seminare, Leitwerke des Rechts, der Geschichte, der Theologie, der Liturgie, der europäischen Bildungssprache an den Universitäten, als Kommunikationssprache zwischen den und innerhalb der Orden und als Amtssprache der kirchlichen Dokumente etc.). Latein wird zu einem Zeichen und einem Instrument der Einheit. Anderseits ist es die Latinität des katholischen mainstreams, welche von reduktiven Elementen geprägt wird (Standardisierungen, traditionelle Stil- und Begriffsfelder, ein rational strukturiertes Philosophieren; Anschluss an probati auctores im Inhaltlichen und Formalen). Dies garantiert einerseits die Kontinuität der inhaltlichen und formalen Flüsse, steht den nationalstaatlichen, wissenschaftlichen und kulturellen Bildungsaufbrüchen aber auch etwas abseits. Für Tirol, vor allem für die Diözesen Brixen und Trient, gilt außerdem die Nachbarschaft zur italienischsprachigen Kulturlandschaft, für welche Latein immer noch eine verwandte Sprache darstellt. Im historischen Pfarrbestand von Niederolang sind von 3.331 Werken 27% lateinisch, 69% deutsch, 2% italienisch, der Rest „andere“. Für Assling, eine weitere Pfarrbibliothek, mit 743 Werken ist die Sprachverteilung: 39% lateinisch, 59% deutsch, der Rest andere. Für die größeren Bestände sind die Verteilungen noch zu entschlüsseln, dürften aber für die Bestände vor 1850 bei 25% liegen. Die Kapuzinerbibliothek Klausen weist in ihrem Restbestand (12.403 aufgenommene Werke nach den Veräußerungen anlässlich der Konventaufhebung) 39% lateinische und 55% deutsche, 3% spanische, 2% italienische Werke aus. Ab dem 16. Jh. setzt sich
auch im katholischen Bereich, analog zum Publikationsmarkt, der volkssprachliche Leser durch. Damit ist der nationalsprachliche Anschluss auch in den kirchlichen Leitbeständen weithin vollzogen.
c) Tirolensienverteilung: In die Tirolensienverteilung fließen vor allem lokalgeschichtlich bedeutsame Gegebenheiten ein: ein Aufblühen von tirolischen Druckorten; ein besonderes Interesse an lokalgeschichtlichen Themen; die lokale Verbreitungskultur, die lokale Ausweitung auf neuere und profanere Erkundungsbereiche (Geschichte, Ökonomie, Politik, Geographie, Volkskundliches …). Für die Propsteibibliothek sieht die Tirolensien-Verteilung wie folgt aus: 1501 – 1600: 25 tirolensisch zugeordnete Werke; 1601 – 1700: 43; 1701 – 1800: 1.131; 1801 – 1900: 514; 1901 – Erschließungsabschluss: 414. Eine völlig andere Verteilung findet sich naturgemäß für das primär lokalgeschichtlich ausgerichtete Stadtmuseum Meran, mit einem Tirolensienverhältnis von 44% : 56% Nicht-Tirolensien. Von den für das 19. Jh. verzeichneten 8.636 Werken fallen 3.476 Werke unter Tirolensien. Die Tirolensien geben in besonderer Weise Hinweise auf das Werden der Landesgeschichte und auf eine langfristige Bewusstseinsgeschichte (Landesidentität). Insofern spiegelt sie lokalgeschichtliche Sonderprägungen und Einschnitte (Napoleon, Kriege, Säkularisation, Auseinandersetzung mit den italienischsprachigen Landesteilen, deren politisch-kulturellen Aufstieg, Bevölkerungs- und Landesbelange). Landesdruckereien bringen dabei ihrerseits zahlreiche Impulse ein.
5. Folgewerte des Projekts.
5.1 Im Zuge des Projekts konnten wilde Bestandsauflösungen und Bestandsverluste fast völlig gestoppt werden (Medienpräsenz des Projekts, eine allmähliche und relativ breite Bewusstseinsbildung).
5.2 Über den EHB-Katalog kommt das historische Buchgut neu in den Umlauf von Interesse, Forschung, Mentalitätsuntersuchung
5.3 Landesweit wurden über EHB Bestandsaufarbeitungen, bauliche Initiativen, Bestandsumlagerungen und andere Maßnahmen von Seiten der Bestandseigentümer angeregt und durchgeführt.
5.4 Die Dublettenfrage. Im Verlauf des Projekts ist es zu einer gezielten Neubewertung der sog. Dubletten gekommen. Die Aufnahmetätigkeit zeigte, dass von unkundigen oder wenig sorgfältigen Bibliotheksverwaltern Berge von Dubletten aus den Beständen ausgeschieden wurden. Dubletten sind nicht die Supernumerarii der Bibliotheken. Sie sind vielmehr von hohem dokumentarischen Wert. Ihre Belegdichte z.B. gibt uns die Bedeutungsdichte und die Prägedichte von Strömungen und Werken an. Durch unbedachte Bibliothekseingriffe werden Werke als Dubletten ausgeschieden, die häufig gar keine sind, sondern veränderte (ergänzte, gekürzte) Nachdrucke, Raubdrucke, identische Verlags- und Jahresnachdrucke etc. Auch echte Dubletten sind einfach nicht nur Dubletten. Sie besitzen Einträge, Exlibris, Besitzvermerke, Gebrauchs- und Marginalvermerke, unterschiedliche Zuordnungen in den Fachsignaturen u.ä. Daraus lassen sich wertvolle Forschungsdaten gewinnen (Verteilungsgeographien inhaltlicher und lokaler Art, Bestandsförderungen).
5.5 Fehlbestände. Die Bestandsdigitalisierungen fördern auch viele betrübliche Tatsachen ans Licht. So fehlen in bestimmten Beständen unter bestimmten Signaturen bisweilen sämtliche Werke. Häufiger sind es unterschiedliche Regalmengen, die fehlen. Manches geht auf die Klosteraufhebungen unter Josef II. und auf die verheerenden Eingriffe in der Säkularisation zurück. Im 20. Jh. kommt es in Südtirol zu politisch motivierten Bestandslichtungen und in der 2. Hälfte des 20. Jh. zu zerstörerischen Bestandsentsorgungen, zu Veräußerungen u. dgl. In einzelnen Fällen lassen sich Bestandsrekonstruktionen erstellen für das, was fehlt bzw. vorhanden sein müsste. Fehlbestände mögen zunächst als das Fehlen „religiöser“ Werke erscheinen. Es sind aber zugleich die Rissstellen und Löcherareale einer ehemals blühenden „Kirchenlandschaft“, in deren Netzwerken jedoch zugleich die Interpretation und die Bewahrung sämtlicher menschlichen und gesellschaftlichen Angelegenheiten und Bereiche hinterlegt war. Dass die Bestandsträger die Lebens- und Erfahrungsbereiche unter eine religiöse Perspektive gestellt haben, nimmt dem „Weltlichen“ nicht den Welt- und Alltagscharakter. Religion und Philosophie verändern nicht ihre Gegenstände, sondern zielen primär auf deren pastorale und weltanschauliche Orientierung ab. Wenn auf dem Buchmarkt und über Antiquariatskataloge religiöse Werke zumeist preis tiefer angeboten werden als äquivalente „profane“ Werke, so hat das Gott sei Dank vieles vom Ausverkauf bewahrt, auch wenn es kultur- und mentalitätsgeschichtlich auf einem Missverständnis beruht.
5.6 Die Neubewertung von Bestandsfunktionen. Signaturensysteme beinhalten zugleich Mengenangaben und bewahren im Allgemeinen zugleich die Leitsysteme der Bestandsträgerschaften. Zur Illustration kann beispielsweise der Signaturenkomplex Homiletik / Homilien herangezogen werden. Im noch erhaltenen Bestand Klausen fallen 31% des Bestandes unter diese Signatur. Verwandte Signaturen sind in anderen Beständen: Predigt, Pastoral. Im Kloster Lechfeldbestand fallen unter „Homilien“ 16% des Gesamtbestandes (1.981 Werke). Im Bestandsumfang kommen im Klosterlechfeldbestand die Signaturen „Historia profana“ (673 Werke) und „Historia ecclesiastica“ (1.040 Werke) nahe, zusammen 1.713 Werke, als Ausdruck einer wachsenden Geschichtsverankerung und der Suche nach den eigenen historischen Kontexten (lokalgeschichtlich, mentalitätsgeschichtlich, religionsgeschichtlich). Die virulenten moralgeschichtlichen Auseinandersetzungen und Bemühungen drücken sich im Bestand aus in den 523 Werken der Signatur „Moral“. Vergleichswerte im Bestand Kaltern sind: Homiletik: 687 Werke, Profan- und Kirchengeschichte: 404 und 423 Werke = 827 Werke, Moraltheologie: 455 Werke. Aufsteigende Disziplinen in fast allen Beständen sind nach 1550 „Biblica“, „Katechese“ und „Pastoral“, Signaturen, denen infolge der Reformation und in der Folge des Konzils von Trient eine wesentliche Förderung zuteil wird. In den unterschiedlichen Signaturvergaben drücken sich zugleich typische Schwerpunktrollen für Bestände, Jahrhunderte, Ordensnetzwerke, lokal- und bestandsgeschichtliche Zusammenhänge aus (Lehranstalten, Volksmission, pastorale Ansprüche, Wandel in den Seelsorgskonzepten, Rollen von Bruderschaften und Zünften etc.). Auch Legate und Unterrichtsaufgaben können Schwerpunktverschiebungen ergeben. Die Bestandsrollen sind ein wesentlicher Baustein in der historischen Forschung. Sie stellen Identitätsstufen dar, nicht nur dem Bewusstsein nach, sondern auch in der Realgestaltung der Verhältnisse.
5.7 Der Abbau von Missverständnissen am Beispiel „profan“ und „sakral“ (qualitative Erschließungsergebnisse). Tirol bietet seit ältester Zeit eine dichte „Verkündigungslandschaft“ im bayerisch-österreichischen Kontext, aber auch in seiner Öffnung nach Süden. Bischofssitze, Abteien, Orden, Dekanate bilden Zentren der Schriftkultur und der Glaubensverwaltung. Die historischen Buchbestände sind die wichtigsten Kulturarchive des Landes, die DNA der Mentalitätsformung und der Kulturgeschichte. Hauptträger und Hauptinterpret der Bildungskultur war, wie anderswo, Jahrhunderte lang die Kirche. Wenn auch die erhaltenen Bestandssignaturen das Bucherbe primär unter theologischen und pastoralen Gesichtspunkten ausweisen, so waren doch die Angesprochenen die Menschen in ihrem umfassenden Alltag, mit ihrem sozialen und politischen Umfeld, ihren rechtlichen Verhältnissen, den Fragen des wirtschaftlichen und gesundheitlichen Überlebens etc. Diese Menschen standen im Kirchenjahr mit seinem Brauchtum, mit den Fragen der Geburt, ihrer Glaubens- und Alltagswelt. Sie trafen sich in Predigtansprachen, Katechese, Beichtkultur, Erziehungsregeln der Kirche, gemäß dem Motto: Ora et labora. Oder gemäß dem Wort Wilhelm Ockhams (OFM, 1285-1347): Das Evangelium ist ein theologisches, ein philosophisches (weltanschauliches), ein politisches (gesellschaftsrelevantes, gesellschaftsprägendes) Wort. Es wäre ein Missverständnis, „religiöse“ Signatursysteme und „kirchliche“ Werke nur theologisch, ohne ihre Wirklichkeitsadresse lesen zu wollen. Bestände in kirchlicher Trägerschaft heißt nicht, dass die Bestände selbst nur religiöse Gegenstände erfassen. Vielmehr werden alle Gegenstände, auch die profansten noch, unter eine religiöse oder pastorale Perspektive gestellt. Die pastorale Praxis ist der eigentliche Umgangsmodus mit den Dingen Gottes und mit den Dingen des Alltags in der Zeit.
5.8 Geschichtskorrekturen als Ergebnis digitaler Datenerhebungen Anhand der Bestandsdigitalisierungen gelangt man zu zahlreichen Geschichtskorrekturen. Einige Bespiele tür EHB.
Für die tirolische Landesgeschichte nähert sich das zweihundertjährige Jubiläum zu 1809 (Napoleonische Kriege, Andreas Hofer, bayerische Landesbesetzung …). Erst die Bestandssichtung bringt an den Tag, wie stark der Themenkreis A. Hofer in der literarischen und historischen Darstellung von antijüdischen Motiven durchsetzt ist und sich bis zum „Verrat“ Südtirols im 20. Jh. als Darstellungstypus fortsetzt (Verrat, Geldgier, Hinterlist, Glaubenstreue – Glaubensverrat = Landesverrat…). Derselbe Darstellungstypus wird sich gegen Ende des Jahrhunderts in der Affäre Alfred Dreyfus für Frankreich wieder finden.
Eine bedeutende Rolle spielen im 15. Jh. die kirchenpolitischen Auseinandersetzungen um Kardinal Nikolaus von Kues (1401 – 1464). Die Darstellung des Brixner Diözesanbischofs Nikolaus von Kues (Cusanus, 1450 1458) nimmt in der Geschichtsschreibung vielfach die romantischen und heroisierenden Züge an, wie sie z.B. den biographischen Beschreibungen des 19. Jh. zu eigen sind. Die hohe Wertschatzung in philosophischen und theologischen Werken und die großen Reformbemühungen finden in den Inkunabelbeständen des Landes keine Bestätigung. Während Autoren wie Nikolaus von Lyra, Jacobus de Voragine, Werner Rolevinck, Antoninus Florentinus, Hugo a Prato Florido (Champsfleury), Thomas v. Aquin, Bonaventura, Petrus Lombardus u.v.a. bis zu einem Dutzend Malen vorhanden sind, findet sich bisher eine einzige Cusanus-Ausgabe um 1500 (Opera Nicolai de Cusa, Martin Flach, Strassburg 1500). Dies zeugt in Wirklichkeit von geringer pastoraler Durchsetzung und Wirkung.
Eine europäische Buchachse: Die Druckwerke des 15. Jh. lassen eine deutliche Buchachse von Köln, die rheinangrenzenden Länder herab ins Elsass (Strassburg, Basel…) und von dort in den süddeutschen Raum herüber (Ulm, Augsburg, Memmingen, Reutlingen, Nürnberg…) und von dort weiter durch Tirol in den norditalienischen Raum (Venedig, Treviso, Mantua, Padua…) erkennen. Im 16. Jh. wird sich die Achse über Köln hinaus bis nach Löwen, Amsterdam und Antwerpen verlängern. Diesen habsburgisch-bayerischen Stamm- und Grenzlanden entlang, entfalten sich die drei großen Reformkonzilien von Konstanz, Basel (15. Jh.) und Trient (16. Jh.). Im 16. Jh. wird es an dieser Buch- und Konzilslinie entlang zur Bruchlinie zwischen katholischer und protestantischer Reform kommen. Dieser Buch- und Glaubenslinie entlang werden sich im 16. und Anfang des 17. Jh. auch die großen Entfaltungszentren der Jesuiten ansiedeln (Dillingen, Ingolstadt, München, Innsbruck, Augsburg, Frankfurt, Köln…). Ein dichtes Netz der Kapuzinerkonvente wird ab Ende des 16. Jh. folgen. An den Inkunabelbeständen in EHB wird ersichtlich, dass es eine primär deutsche Buch- und Druckerachse war, die das Wandern der Druckwerke und der Druckaufträge von Norden nach Süden und vom Süden nach dem Norden erleichterte. Auch die in Oberitalien, mit übergewichtigem Schwerpunkt Venedig, im 15. Jh. gedruckten Werke, werden zur Hauptsache in deutschen Druckeroffizinen und von deutschen Druckern mit ihren Verbindungen und Austauschbeziehungen nach Norden hergestellt. Die Wanderwege dieser Buchachse entlang belegt auch die Aufarbeitung der Inkunabel und der Cinquecentine (Werke des 16. Jh.) in der Provinz Trient durch Anna Gonzo, Walter Manica, Beatrice Piccolini u.a. in der Reihe „Patrimonio storico e artistico del Trentino“, einer Veröffentlichungsserie der Autonomen Provinz Trient (Provincia Autonoma di Trento, Servizi culturali – Servizi beni librari e archivistici).

Schlussbetrachtung
EHB blättert sich im historischen Buchgut nicht nostalgisch in die Vergangenheit zurück oder folgt dem letzten Modeschrei unserer Tage nach mehr Kontinuität und Geschichte, gegenüber irgendwelchen Kulturauflösungen der Zeit. EHB legt die Forschungsgrundlagen, um an die zentralen Muster und Themen eines durchgängigen Werdeprozesses heranzurücken.
Eines ergeben die Digitalisierungen, dass weder das 15. Jh. ein dunkles Jahrhundert war, noch dass das sog. aufgeklärte Jahrhundert, das achtzehnte, den kirchlichen Beständen nach etwa ein Jahrhundert der Niedergänge gewesen wäre. Es waren vielmehr Jahrhunderte, in denen Städte, Bürgertum, Gelehrtentum, §aufgeklärte“ Mönche und Autoren der großen Universitäten führende Rollen in Kirche, Wissenschaft und Gesellschaft für sich beanspruchten.
Die Landesbestände belegen eine außerordentlich gebildete kirchliche Trägerschaft, die konstant um Lektüre und Buch bemüht war, die aber ihre Verdrängungsprozesse in Gesellschaft, Staat und Kultur nicht ausreichend und viel zu spät wahrnahm und so in diesem Ringen an Boden verlor.

Literaturverweis
Garber Walter, Die historische Bibliothek des Stadtmuseums Meran (dt. u. ital.), in: Erschließung Historischer Bibliotheken, hrsg. v. P. Bruno Klammer und Bibliogamma, Bd. 1, Provinz Verlag Brixen 2006.
Domanegg Rainhard – Kienzl Hans, Die Pfarrbibliotheken Niederolang und Assling (dt. u. ital.), in: Erschließung Historischer Bibliotheken, Bd. 2, Brixen 2007.
Schmidt Manfred, Die Franziskanerbibliotheken Kaltern, Innichen, Signat und Klosterlechfeld (dt. u. ital.), in: Erschließung Historischer Bibliotheken, Bd. 3, Bnxen 2007. Zum Gesamtprojekt EHB und Bibliogamma ONLUS: www.ehb.it
Für Trient: die Serie: Patrimonio storico e artistico del Trentino – Collana di pubblicazioni dei Servizio Beni culturali – Servizio Beni librari e archivistici della Provincia Autonoma di Trento ( Bde. 12, 14, 18, 20 u.a.; Autoren/innen: Anna Gonze, Walter Manlca, Beatrice Niccolini u.a.).

Anmerkungen
[1] Müller, a.a.O., S. 139f.