Online Katalog

Bücher brechen die Geschichte auf.
510.000 Bücher im online Katalog
Bruno Klammer

Aus: Almanach. Jahresbericht der Stiftung Südtiroler Sparkasse [2010], S. 58-61

 
Was ist ein Gehirn? Ein dynamischer Speicher von und für Informationen, Wahrnehmungen, Verarbeitungsprozesse. Die Kunst des Gehirns ist, so zu speichern, dass Informationen abrufbar gehalten werden. Was ist eine Bibliothek? Eine riesige Speicheranlage. Und die einzelnen Bücher in ihr sind die Sonderspeicherungen für einzelne Wissens- und Fragenbereiche. Bücher sind die Schnittstelle vom Gedachten zum Denkmöglichen. Zur erfahrenen und zur noch erfahrbaren Geschichte.
Die Regalböden der Bibliotheken sind die synchronen Speicher dessen, was für bestimmte Epochen prägend war. Und diachron sind sie der rote Faden von Themen und Entfaltungen durch die Geschichte herauf. So lesen wir in den historischen Bibliotheken vom Werden unserer Kultur und von der allmählichen Formung unserer Bewusstseinsschichten.
Die Grundlegung der Moderne erfolgt vor allem über drei Wissensbereiche, die konsequent in die Vergangenheit zurückforschen: Biologie, dann Materieforschung und Kosmologie, und, drittens, die Entschlüsselung der neuronalen Funktionsweisen und Strukturen. Der Rückgriff in die Vergangenheit wird zum Erschließungsparadigma für die Zukunft. Im Bucherbe haben wir das umfassendste Kulturgut des Landes vor uns. Es umschließt alle Themen und Bereiche. Das Dilemma dieser Buchgeographie ist es, dass Plastik, Malerei, Musikstücke, Werke der Architektur viel leichter und viel unmittelbarer fassbar sind als der Umgang mit dem historischen Buchgut. Dieser ist ergebnisträchtiger, verlangt aber weit mehr an Kultur und eine wesentlich intensivere Beschäftigung ab.
Die großen Fragestellungen der Kultur bleiben der rote Faden der Geschichte und auch aller Buchgeschichte: Was kann der Mensch denken? [Denkmodelle, Modelle der Interpretation]. Welche Grundverhältnisse gilt es zu gestalten? [Staatsentwürfe, Verfassungsentwürfe, Bildungsentwürfe, Sozialentwürfe, Berufsbereiche …] Was ist das Bleibende, und was ist das Fließende? [Strukturrnodelle und Modelle des Wandels] Hinsichtlich Bildung und Geschichte gibt es viele Leerformeln unter uns. Wozu Geschichte? ist z. B. eine davon. Jedes Testament beginnt damit, dass es die Hinterlassenschaft auflistet und in Verzeichnisse bringt. Aufgrund des Verzeichneten kann Erbe zugeteilt und damit weiter verfahren werden.
Das Förderprojekt der Stiftung Südtiroler Sparkasse „Erschließung historischer Bibliotheken in Südtirol“ [EHB] hat zur Ausgangslage, einmal die Inventare sicherzustellen, um wertvollstes Kulturerbe zu erhalten und uns, der Öffentlichkeit und der Forschung neu zugänglich zu machen. Das 1997 von der Stiftung Südtiroler Sparkasse und der Diözese Bozen-Brixen ins Leben gerufene Projekt schafft den Grundlagenkatalog für alle weiteren Bestandszugriffe und Verfahren. Der EHB-Katalog ist das riesige Bewusstseins- und Stichwortlexikon der Landeskultur. Es verzeichnet mittlerweile über 510.000 Werkeinträge im Katalog. Neun hoch qualifizierte Fachkräfte [mit Abschlüssen in Altphilologie, Theologie, Filosofie, Linguistik, Bibliothekswissenschaften, Geschichte …] arbeiten zur Zeit an der Erschließungstätigkeit.
Zur Katalogtätigkeit hinzu tritt eine Fachserie zu erschlossenen Beständen und zu den Trägerschaften in Südtirol. Parallel laufen Prozesse der Bewusstseinsbildung und der Projektverankerung in einer immer breiteren Öffentlichkeit. Sowie der Rückgliederung der Südtiroler Bibliothekslandschaft und der diesbezüglichen Forschungsansätze in die gesamteuropäische Kulturlandschaft, nachdem dieser Zusammenhang nach 1918 abgebrochen worden war.
Der Fachgenossenschaft Bibliogamma Onlus fallen nicht nur die Orientierung und Durchführung des EHB-Projekts zu. Sondern auch die Genossenschaftsverwaltung, die Aufarbeitung der wachsenden Zahl von Anfragen in den vielfältigsten Bereichen. Eine Frage der 68er war: Wie viel dürfen Geschichte und Bildung kosten? Es ist viel, was EHB kostet. So wie alle Grundlagenforschung in Biologie, Physik, Mentalitätsgeschichte z.B. Kosten verursachen. Wer Geld gibt, muss und will das auch öffentlich rechtfertigen. Und als Nächstes: Inwieweit kann das EHB-Projekt überhaupt werbeträchtig umgesetzt werden? EHB ist primär ein Langzeitprojekt für die kulturelle Zukunft und die mentalitätsgeschichtliche Erschließung des Landes. In dessen Förderung handelt die Stiftung als Bildungs- und Bewusstseinsträgerin in die Zukunft hinein. Und als kulturelle Mitgestalterin europäischer Kulturpolitik, indem EHB die umfassendste kulturhistorische Hinterlassenschaft des Landes in die europäischen Kultur- und Forschungskontexte einbindet und zurückführt. Durch Tirol verlief eine der großen europäischen Buchachsen vom Norden nach Süden und vom Süden nach Norden. Dieser Buchachse entlang finden die drei großen Reformkonzilien von Konstanz, Basel und Trient statt. In den meisten Biographien Papst Benedikt XVI. ist Südtirol als Herkunftsland vor allem seiner Mutter bekannt geworden. Dieses „Mutterland“ liegt an einer der wichtigsten europäischen Austauschstraßen: des Papsttums, der Kirche und der Kultur nach
Norden und der kaiserlichen Interessenpolitik, des Buchdrucks etc. nach Süden. Die Bestände weisen viel von dieser geschichtlich und kulturgeschichtlich hochbedeutsamen Achse aus. Ein großes Mitverdienst der Stiftung ist es, diese Forschungswelt gesichert und neu verfügbar gemacht zu haben. In den europäischen Kulturkontexten ist es nicht wenig. Allein über den OPAC der Universitätsbibliothek Bozen, über VThK und die EHB-Website [ohne anderweitige Zugriffe] wurde im Jahr 2010 ca. 85.000-mal auf den EHB-Katalog zugegriffen.
Da alle Initiativen auch ihre obligate Gegnerschaft haben, komme ich auch noch kurz auf den sogenannten prophetischen Einwand zurück: Das E-Book [eBook], das elektronische Buch, der Bildschirmtext, werde das gedruckte Buch verdrängen. Bisher ist das nicht passiert. Der Buchmarkt floriert, und das nicht nur zur Weihnachtszeit. Neue Leserschaften entstehen. Wenn Schreiben die vollkommenste Darstellung von Intelligenz ist [Michael Huter, Die Bleiwüste lebt], dann wird das Buch in der Hand, mit Bleistift und in vielen Fortsetzungen und im ständigen Rückgriff gelesen, das ideale Medium bleiben, mit dessen Hilfe wir aufnehmen. Vertiefen. Behalten. Und letztlich, alles Heruntergeladene und wieder Ausgedruckte ist und bleibt auch wieder fixierter Text. Der online-Leseraum ist umfassender als die kleine Lesebibliothek. Diese aber ist und bleibt prägender. Der online-Text ist Referenztext. Der Buchtext Integrationstext über längere und lange Strecken hinweg.
Eine letzte Überlegung soll hier nur angerissen werden: die Digitalisierung geschlossener Werkbestände – das gesamte Buch online gestellt. Das Blättern im Buch mag zunächst eine ähnliche Faszination versprechen wie das Facebook. Wer aber mehr als ein paar Bücher durchblättern will wird wieder herunterladen und ausdrucken. Dem Forscher erspart das digitale Buch das Reisen um die Welt, Mittel und Zeit. Und ermöglicht einen umfassenden Werkzutritt, der vor allem bei älteren Büchern nicht immer so einfach gegeben ist. Für den Nicht-Fachmann wird das Blättern vielleicht ein Instrument der Neugierde, jedoch immer nur von sekundärem Zweck und Gewinn sein. Es sei denn, ein hundert und mehrbändiger Brockhaus der Verschlagwortung, der Begriffsfindung mit ausgewählten Literaturverweisen kommt hinzu: die allmächtige Suchmaschine allen Wissens. Und diese ist nicht weniger komplex als die Entschlüsselung aller Gene und Funktionsweisen eines Genoms. Gelänge dann eines Tages auch noch die gesicherte Aufschlüsselung aller Zusammenhänge bis in die Bewusstseinsschichten hinein, hätten wir das perfekte, vollkommene Buch der Welt und eines jeden Einzelnen vor uns. Es ist anzunehmen, dass die Forschung nicht bei EHB und auch nicht bei allen derzeitigen Digitalisierungsprojekten und Programmen stehen bleiben wird. Die Anfänge von EHB kennen wir. Im Wissen bis ans Ende zu gelangen, wird noch viel Zukunftsmühe abverlangen.