Kulturgeschichtliche Wurzeln

Prägendes, Bleibendes.
Das Projekt EHB (Erschließung Historischer Bibliotheken) legt die kultur- geschichtlichen Wurzeln des Landes frei

Bruno Klammer

Aus: Kulturelemente. Zeitschrift für aktuelle Fragen, Nr. 83 (Aug. 2009), S. 11-12

Das Werden eines europäischen Forschungskatalogs
In der kleinformatigen Pannonia-Reihe zur bayrischen Kultur (Denkmäler, Volkskunst, Talschaften, Brauchtum, Wallfahrten, Kräuterbräuche, Herzöge, Fahnen, Leute, Religiöse Sekten und Sinnbilder, bayrisches Bier, „bairisches Meditieren“ …) findet sich unter Nr. 210 ein Bändchen „Bayerische Klosterbibliotheken“. Darin wird die Geschichte von 22 Klosterbibliotheken vorgestellt. Vieles davon ist mit der Kloster- und Bibliothekslandschaft Südtirol verwandt und verbunden.
Zum Grundbestand einer Klosteranlage gehören die Kirche und die Anlage einer Bibliothek. Die Kirche ist der Ort des gesprochenen und gebeteten Wortes. Die Bibliothek (das Armarium, die Waffenkammer des Geistigen) ist der Ort des geschriebenen und überlieferten Wortes.
Lange Zeit waren die Bücher Rollen, bis sich die gegenwärtige Buchform mit Blattlagen entwickelte. Eine Rollenanlage besitzt im Tiroler Raum z.B. Stams für Teile seines Archivs. Geschrieben wurde auf präparierten Tierhäuten (Pergament): für einen mittleren Kodex wurden 120 bis 150 Schafs- oder Kalbsfelle benötigt, für einen Prachtband zwischen 300 und 500. 1302 ließ Philipp IV. der Schöne Citeaux, das Mutterkloster der Zisterzienser, überfallen und trieb dessen 14.000 Schafe fort. Damit verlor Citeaux die Grundmaterialien für seine Schreibstube. Ohne Bücher war das Kloster in seinem Einfluss für lange Zeit gebrochen.
Vom 8. bis zum 15. Jh. bildet sich im Alpenbogen südlich und nördlich des Brenners ein intensiver Kulturgürtel aus, mit bedeutenden Diözesanstrukturen, einem immer dichter werdenden Klosternetz und mit einer entsprechenden Schriftkultur. Im Zusammenhang mit der Diözese Brixen steht der berühmte Bernkasteler Bibliotheksnachlass des Brixner Bischofs Kardinal Nikolaus von Kues (Brixner Bischof 1450-1458 bzw. 1464). Bereits das IV. Laterankonzil (1215) bestimmte, dass auch Pfarrkirchen für ihre Funktionen mit dem nötigen Buchgut ausgestattet werden sollten. Aber erst der Buchdruck im 15. Jh. ermöglicht einen umfangreicheren pfarrherrlichen Buchbesitz. War die Buchproduktion vorher in der Hand der Kirche, wechselt sie mit dem Buchdruck in die Hände bürgerlicher Druckerdynastien hinüber. Dies bedeutet einen tiefgreifenden Wandel im öffentlichen Bewusstsein. Mit dem Buchdruck kommt es zur Herausbildung europäischer Buchstraßen. Eine dieser Buchstraßen führt von Köln und Antwerpen die Rheinlande abwärts (Frankfurt, Mainz) nach Strassburg, Basel, von dort durch Süddeutschland (Augsburg, Nürntierg …) und durch die tirolischen Diözesen Brixen und Trient nach Süden, mit Schwerpunkt Venedig, und von dort wieder nach Norden. Somit kommt das Land mit dem Buchaustausch in einen intensiven Kontakt. Bis ins 18. Jh. herauf ist dieser Buchstrom in den Beständen von Trient und Brixen nachweisbar (in Ordensnetzen, diözesanen Trägerschaften, Pfarreien, bei Bestandssammlern).

Erschließung historischer Bibliotheken (EHB) in Südtirol – ein Förderprojekt der Stiftung Südtiroler Sparkasse
Das EHB-Projekt setzt ein mit dem gedruckten Buch um und nach 1450. Es widmet sich der Erfassung der im Lande erhaltenen Buchbestände in Klöstern, kirchlichen und öffentlichen Trägerschaften oder in Privatbesitz. Das Projekt wurde 1997 in Absprache zwischen der Diözese Bozen-Brixen und der Stiftung Südtiroler Sparkasse gegründet und wird von dieser unter deren Präsidenten RA Dr. Gerhard Brandstätter fortgeführt. In ihm arbeiten zur Zeit neun voll ausgebildete Akademiker, mit Studienabschlüssen in den unterschiedlichsten Fächern. Die Durchführung des Projekts liegt in der Hand der Sozialgenossenschaft Bibliogamma Onlus. Projektleiter und Verantwortlicher der Genossenschaft ist Dr. P. Bruno Klammer. Projektdaten zur Erschließung, zur Stiftung Südtiroler Sparkasse, zu Bibliogamma, Projektfortschritt etc. finden sich im Internet unter www.ehb.it. Ende Juli 2009 zählt der EHB-Erschließungskatalog bereits 454.000 Fachkatalogisate im Netz. Jährlich wächst der Katalog um weitere ca. 40.000 Fachaufnahmen an. Ende 2010 dürfte die „magische“ Grenze von einer halben Million überschritten sein.

Die Erschließungsserie zum Projekt
Seit 2006 arbeitet Bibliogamma Onlus zusätzlich an einer Erschließungsdokumentation: Erschließung Historischer Bibliotheken in Südtirol – Censimento delle Biblioteche Storiche dell’Alto Adige (Provinz Verlag, Brixen). Die Serie gibt Aufschlüsse über die Erschließungsmethodik, dokumentiert die statistischen und inhaltlichen Bestandswerte, erarbeitet geschichtliche Projektzusammenhänge, Rollen, typische Merkmale u.v.a. Die Bestandsbelege werden ergänzt durch zahlreiche Bildmaterialien. Bisher sind fünf Bände erschienen, zwei sind für Ende 2009 in Ausarbeitung, weitere befinden sich bereits in Planung.

Wozu so viel Geld?
Wozu, sagt Judas, den Aufwand für die Salbung von ein paar Füßen? (Joh. 12,4-6) Warum nicht alles Geld in die Sozialfürsorge, für die Armen? Das EHB-Projekt ist „zukunftsträchtig“ angelegt und ausgerichtet vor allem auf landeskundliche und mentalitätsgeschichtliche, mentalitätsprägende Aspekte. Die überlieferten Buchbestände sind das umfassendste und bedeutendste Kulturgut des Landes. Sie sind nicht so leicht zu „lesen“ wie Werke der Plastik, der Malerei oder Architektur und andere Schöpfungen der Kunst. Anderseits legt EHB die Forschungsgrundlagen frei für das, was unser Land kulturgeschichtlich und mentalitätsgeschichtlich geprägt hat und bis heute nach prägt. Die DNA unserer Landeskultur.

Von den Rohbedürfnissen zur Humanitätsprägung
Der Weg in die Kultur ist das, was uns überhaupt erst human werden lässt aus den Rohbedürfnissen der Triebe und der Verhältnisse uns in die Feinkultur, in die feine Wahrnehmung des Einzelnen und des gesellschaftlichen Kollektivs hinüber bringt. Das Buch ist das Investitionsgut, das die Dynamik der geistigen und materiellen Verhältnisse antreibt.

Der Erschließungskatalog – der gefährliche Tiefenspeicher unseres Bewusstseins und unserer Erbgeschichte
Was auf den Regalböden unseres Landes steht, hatte und hat nicht nur Bewunderer und Freunde. Zahlreiche kontroverstheologische und kontroversphilosophische Werke des 16. und 17. Jh., die verbotenen Bücher in den Beständen, Zensurvorschriften, z. B. in den Rechtspassagen des Tridentinums, Bestandszerstörungen beweisen es. Die Bücher einer Strömung befehden die einer anderen. Im 18. Jh. sind kirchlicher Buchbesitz und kirchliche Bestandsträger aufklärerischen Gruppen im Wege. In der Säkularisation, im Gefolge des Reichsdeputationshauptschlusses 1803 zu Regensburg, wird in großen Südtiroler Sammlungen geplündert, entsorgt, makuliert. Im 20. Jh. ist es der Faschismus, der die uralte Buchlandschaft Südtirol zu „entmachten“ versucht. Nach dem 2. Weltkrieg ist das historische Selbstbewusstsein der Bestandsträger selbst weithin zusammengebrochen. Bestände werden in feuchte Dachkammern verbannt, veräußert und aufgelassen.

Das Missverständnis von sakramentalem bzw. religiösem Sondergut
Für diejenigen, welche die großen Sammlungen von Innichen bis Marienberg angelegt haben, gibt es ein seelsorgliches Primärinteresse hinsichtlich Glaubensvermittlung, religiöser, sozialer und ethischer Prägung. Aber es gibt ein ebenso großes Primärinteresse an Ökonomie, Handel, Gewerbe, Medizin und Krankheiten, Brückenbau, antiker und zeitgenössischer Literatur, Geschichte, Philosophie, an Bewässerungsfragen, Landwirtschaft. Wie anderseits die missverstandenen und missachteten „Predigtschmöker“, Beichtwerke und Ethikwerke die Leitlinien bezeichnen für alles, was den Alltag unter den Füßen betrifft. Es sind Werke der Volksprägung in allen Bereichen und sind Werke für den Gebrauchsumlauf.

Das EHB-Netz – ein Netzwerk gegen Bildungs- und Bewusstseinsverarmung
Der EHB-Katalog ist nicht etwas zum Lesen vor dem Einschlafen. Er ist ein Nachschlagewerk für eine Millenniumsgeschichte der Kultur. Landeskultur ist Wurzelgeschichte weitab von Selbstbespiegelungskammern und Beistrichsetzereien. „Profan“ und „Sakral“ treffen sich in der einen gelebten und erlebbaren Realgeschichte. Tagesgetriebe und Oberflächengetriebe werden zurückgebunden an die Quellen und an die Erbkultur des Landes. Den Tagesreizungen der Medien und der Politik gibt die mentalitätsgeschichtliche Forschung die Prägesätze der Kulturgenese an die Seite.

Manchmal sind die „altmodischen“ Dinge der rote Faden der wahren Dinge
Das Geheimnis unseres Überlebens ist, dass die Gene nicht tagespolitisch, tagesmedial, tagesmodisch sind. Sondern einen bleibenden Grund bilden. Und Veränderungen nur über lange Zeit hin aufnehmen. Zahlreiche Bestandswerke haben in Auflagen von zwanzig-dreißig und bis zu dreihundert und mehr das Bewusstsein des Landes über lange Zeit geprägt. Und sie prägen es immer noch nach. Im EHB-Projekt wird Geschichte gleichsam zurückgelesen zu den Ursprüngen von Glaubenselementen, Kulturansätzen, wissenschaftlicher und humaner Vorgeschichte. Zurück bis in die „heidnische“ Vorzeit von Brauchtum, Praktiken und Wahrnehmungen in uns. Hinter den Schauräumen des Klosters Neustift, des Priesterseminars oder aus den schlichten Magazinregalen der Kapuzinerbibliotheken schauen europäische Geschichte und Urgeschichte hervor und auf uns herab. Europäische Selbstwerdung. In EHB wird solche verfügbar gemacht.

Das Projektgeständnis eines Außenseiters
Der Aufstieg der unteren Klassen hat sich in der Vergangenheit dadurch vollzogen, dass sie Interessen wahrzunehmen und richtig zu „lesen“ begannen. Diese Aufstiegsform wird bleiben und steht uns weltweit in vielen Ländern und Kulturen bevor. Während Parteien und Kirchen ihre Konzilien abhalten, hält EHB Einzug in die unendlichen Konzilsräume der Büchersammlungen. In Pro und Contra reihen sich dort die Väter des ewigen Denkens, der Forschung und der nie abreißenden Auseinandersetzung. Ein leerer Teller ist eine sonderbare Speise und mag für kurze Zeit hingehen. Zur Entschlackung von leiblichem und seelischem Ballast. Dann aber muss man sich wieder an die
langen Tische der Fülle setzen.
Zwölf Jahre Arbeit an einem Projekt sind eine apostolische Zeit. Und was herauskommt, werden einige sagen, ist ein Katalog. Nicht unbedingt lesbar für das „gemeine Volk“. Aber auch nicht anders und nicht weniger als der „Wissenschaftsabfall“ der Labors in allen Teilen der Erde. Dennoch führte und führt der „Wissensmüll“ aus Vergangenheit in die Zukunft. Hält die Dynamik unseres Weltgebäudes in Gang.
Unter den Forschenden sind die Bestandsforschenden nicht die Geringsten. Von ihnen werden die „Dinge“ der Welt in ihre Zusammenhänge zurückgebracht. In einer Darstellung des Earl of Rochester von 1675 sitzt ein Affe auf Büchern. Trägt eine Krone und hält ein Buch in der Pratze. Ob jemand Buch und Wissen ironisch-halbironisch einem Affen in die Hand und unter dessen Hinterteil drückt oder einem hl. Hieronymus in dessen Griffel gibt, es geht um dasselbe: das Buch. In Südtirol sitzen zur Zeit das EHB-Projekt der Stiftung und die Bibliogammaarbeiter/innen auf dem überdimensionalen Kulturbuch des Landes. Die Kirche sitzt mit dabei. Denn immer sind es die Drei. Die sitzen. Auf europäischem Kultur- und Buchgut sitzen. Erschließen. Es in Zusammenhänge bringen, die Schließen öffnen und die Siegel von ihm nehmen. Ein Land ohne seine Bücher ist wie ein Erzählwerk, dem die Zusammenhänge fehlen.