Jakobsleitern zur virtuellen Bibliothek

Antrittsgedanken zu einem ehrgeizigen Projekt
Bruno Klammer

Aus: Almanach. Jahresbericht der Stiftung Südtiroler Sparkasse [1997], S. 30-35

Um die Reinerhaltung der »katholischen Lehre zu schützen und um die Reinheit der Sitten vor Verfall zu bewahren, sollen alle schädlichen und verderblichen Bücher in einem Katalog erfaßt und aufgezeichnet werden.« (Index der verbotenen Bücher, 1761)
So sah es einst die kirchliche Behörde. Denn viele Bücher waren zur Zeit des Erlasses in Umlauf, von schwarzer Magie, Teufelskult, Erotik, Werke des Widerspruchs und voller Angriffslust auf Amtskirche und Feudalstaat. Revolutionäre Werke einer neuen Zeit.
Die nunmehrige Katalogisierung in einem EDV-Einheitssystem freilich geschieht ohne Ansehen der Autoren, der behandelten Gegenstände und ohne jegliche Scheidung in Bücher-Böcke zur Linken und fromme Bücher-Schafe zur Rechten. Die Kataloge der Neuzeit sind weder fromm noch unfromm, sondern dienen einfach der Erfassung des Vorhandenen.
Bücher sind Dokumente. Und so können wir aus ihnen schöpfen. Wir können aus ihnen wissen, was vor uns war. Um besser zu erkennen, was nach uns sein wird. In den Jahren der eigenen Bibliotheksverantwortung über letztlich mehr als 220.000 Werke, bin ich tausendfach an die Formel gestoßen: alter Plunder – Wer liest das noch? – Alles orientiert sich doch am Wissen unserer Zeit.
Alter Plunder. Es gab eine Zeit, in der Gemälde die einzig mögliche Form der Abbildung waren. Wer die Zeit überdauern und der Nachwelt ein Bild hinterlassen wollte, ließ Gegenstände zeichnen und sich selbst porträtieren. Alter Plunder – all die Zeichnungen von Bauwerken, Weltwundern, Kuriositäten? All die Gemälde der Fugger, der Höfe, Päpste, Familien, Regenten? Die Wiedergabe der Landschaften und die Stiche der Städte?
Die Neuzeit hat ein viel genaueres Instrument der Abbildung entwickelt: die Fotografie. Die Gegenstände und menschliche Züge bis ins einzelne und über Strecken bis zum Mars hin erfaßt. Und dennoch: Das Gehaltvollere bleiben das gemalte Bild und die Zeichnung, weil sie zusätzlich interpretieren, vertiefen, Perspektiven einbringen und mehr als nur den Gegenstand einbeziehen. Bücher sind Bilder. Gemälde. Des inneren und des äußeren Lebens.
Man könnte für Bücher auch noch einen anderen Vergleich einführen: den Unterschied, der besteht zwischen einer Biographie und einem Protokoll. Ein Sitzungsprotokoll oder ein Unfallprotokoll schneiden nur einige wichtige Details aus einem größeren Zusammenhang heraus. Eine biographische Darstellung hingegen versucht das Vor- und Nachher zu beleuchten. Geschichte und Geschichten, die vorausliegen. Sie dringt in die Motive von Menschen ein. Prüft die Mitgeschichte von Menschen und Zeiten. Bücher sind Handhabungen zum Gebrauch, z.B. medizinische oder juridische Werke. Und Bücher sind geistesgeschichtliche Biographien.
Alter Plunder. Erkenntnisse werden auf eine doppelte Weise gewonnen. Aus einer Zusammenschau dessen, was zu einer bestimmten Zeit vorhanden ist. Zum Beispiel aus dem, was wir in unserer Zeit über einen Gegenstand wissen. Aber ebenso wichtig ist es, die Entfaltung, die Tendenz, die Richtung von Bewegungen zu erkennen. Und dazu brauchen wir die Vorgeschichte. Zum Vergleich. Wie war etwas urgestern – vorgestern – gestern – wie ist es heute – und wohin geht, wenn man das alles vergleicht, die Strömung für morgen? Die großen gesellschaftlichen Fragen sind solche der Entwicklung und der Entfaltung. Aus der Vergangenheitsbetrachtung hat Ch. Darwin sein epochales Erkenntnismodell der Evolution abgeleitet. Die Betrachtung unserer Geschichte ähnelt der Schichtfotografie in einem Tomographen: Wo beginnt der Krankheitsherd, und wohin breitet er sich aus? Wo beginnt im »alten Plunder« der Ansatz für republikanisches und demokratisches Denken, und, wenn wir alle Entwicklungen vergleichen, wohin wird er führen? Es ist entscheidend für die Medizin zu wissen, wie etwas entsteht. Wenn wir die Ursachen und den Verlauf einer Sache kennen, werden uns auch die Lösungen möglich. Nichts anderes will Kulturgeschichte sein. Sie verfolgt den Ablauf und den Zusammenhang von Dingen. Im Schrifttum der Bibliotheken ruht alles Wissen und alle Weisheit. Und Aufgabe der Forschung ist es, dieses Wissen abzurufen. Sich dessen zu bedienen.
Am Ende des Katalogisierungsprojekts der Stiftung wird vermutlich eine Bibliotheksgeschichte des Landes stehen. Vom einen Kulturende des Landes, Marienberg, bis zum anderen, dem Propstei- und Bibliotheksbestand zu Innichen. Und wahrscheinlich sogar etwas darüber hinaus, denn viele wertvolle Landesbestände sind gegenwärtig weitum außerhalb des Landes verteilt. Nicht nur in Nachbarsregionen (Innsbruck, Wien, München, Budapest …), sondern bis über den Ozean hin. In einem langwierigen Detektivverfahren konnte z.B. eine Serie der dreiteiligen Bozner Passion aus dem Jahre 1495 in den USA an der Cornell University wieder nachgewiesen werden. Die Rückführung des zweiten Originals aus irgendweIchen italienischen Archiven nahm Jahre in Anspruch. Eben weil Kulturpolitik ein wesentlicher Teil der Politik überhaupt ist. Und langfristig viel bedeutsamer als Tagespolitik.
Aus diesem Grunde auch verschwanden nach dem Anschluß Südtirols an Italien gleich ganze Bestände, und sind erst zum Teil irgendwo wieder geortet worden. Vieles und überaus Wertvolles hat Südtirol aber schon früher verloren. Indem Mönche es selbst zerschnitten, makulierten und als veralteten Bestand für Einbanddeckel und zu allem Möglichen verwandten.
Noch nach dem Zweiten Weltkrieg wird von einem langjährigen Bibliothekar überliefert, daß er ganze Inkunabelbestände, und vor allem handgeschriebene Codices als »sowie ungelesen und unlesbar« zum Heizen seines Bibliotheksofens verwandte. Nicht wenig ging dann verloren in den Bauernaufständen des 16. Jh.s (1525), wo die Bauern und Aufständischen über die Bibliotheken herfielen und bemüht waren, die Urkunden ihrer Verpflichtungen, Abhängigkeiten und Dienstbarkeiten zu vernichten. Dann wieder ging Besitz verloren in den Josephinischen Klosteraufhebungen und durch die Säkularisation unter Bayern und Napoleon mit der Aufhebung der großen bedeutsamen Klöster (1807/1808).
Der Eingriff in die Bibliotheken hatte den Stolz auf die wertvollen Sammlungen und auf die kulturelle Tradition so sehr gebrochen, daß sich einige Stifte geistig das ganze 19. Jh. hindurch kulturell nicht mehr so recht erholten. Eine große Trägerschaft der Kulturgeschichte unseres Landes war damit weitgehend zusammengebrochen. Und erst die Übernahme von Schulen vermochte Klöster und Stifte aus der Lähmung wieder herauszuführen. Es ist die Zeit, in der wertvolle Schulbibliotheken entstehen.
Und vieles ist dann noch im Verlauf der fast zweihundertjährigen Geschichte nach der Säkularisation veräußert, verwurstelt, verliehen und verstreut worden. Nur einiges im Ausland Befindliche konnte durch eine Art Dollaroffensive wieder ausgemacht werden. So gelang es der Technischen Universität Berlin im Bereich der mittelalterlichen Spiele Wertvolles zu entdecken, und z. T. zu edieren (etwa in der Editionsreihe Mittlere deutsche Literatur in Neu- und Nachdrucken, hrsg. H.-G. Roloff, Peter Lang-Verlag).
Leider ist bereits im 19. Jh., dann vor allem in der zweiten Hälfte des 20. Jh.s die Bibliothekslandschaft Südtirol auch etwas zu einem Steinbruch, zu einem Bücherbruch der Antiquare geworden. Der Rückgang an qualifiziertem Bibliothekspersonal, die Auflassung von Klöstern und Benefizien, die Veräußerung von Adelsansitzen, Handelsgier und Geldmacherei haben Breschen geschlagen, die kaum mehr ganz zu heilen sein werden. Vieles ist in alle Windrichtungen und in unzugängliche Sammlervitrinen zerstreut.
Um der Erhaltung des Vorhandenen willen, ist es dringlich geworden, die Initiative zu ergreifen. Südtirol hat sich entschlossen, einige universitäre Strukturen aufzubauen. Mit einer Universität sind immer auch Kultur- und Forschungsaufgaben verbunden. Über Südtirol hinaus sollen die erhaltenen Bestände aber auch den großen Bibliotheksprogrammen anderer Länder, z. B. der Bayerischen Staatsbibliothek, dem österreichischen Bibliotheksverbund, Trient, das eine rege Forschungstätigkeit unterhält, u. a. zugänglich gemacht werden. Kataloge sind Teil eines Kulturanschlusses und eines internationalen Kulturzusammenschlusses. Je bereitwilliger im Rahmen des Projekts KSB auch Private ihre Bestände für die Aufnahme zur Verfügung stellen, um so stärker werden deren Bestände aufgewertet, vor Verfall gesichert, und um so vollständiger wird das Bild der in Südtirols Sammlungen verborgenen geistigen Landschaft.
Aus Bibliothekserfahrung weiß ich, daß die Bibliotheksgeschichte zugleich eine Kriminalgeschichte ist. Manchmal im großen wie häufig im kleinen. Deshalb wurden wertvolle Bücher einst angekettet (Kettenbücher). Heute müssen wertvolle Werke nach Benützung Seite für Seite nach herausgeschnittenen Blättern, Karten, Kupferstichen, Artikeln überprüft werden. Die Sammlerleidenschaft bedeutet beides: Sie trägt viel Wertvolles zusammen, und solche Sammler verdienen Anerkennung und großen Dank. Andere Sammler entwenden, schneiden heraus und betrügen wohl auch manchmal einfältige, unerfahrene Besitzer und Bibliothekare.
Bis zur Erfindung des Buchdrucks im 15. Jh. wurden Werke wenigstens zu fünf Sechsteln in Klöstern und an Hochstiften abgeschrieben, und weitgehend auch verfaßt. Mit dem Buchdruck entgleitet den Mönchen die beinahe allgemeine Verfügung über den Buchmarkt. Gedruckte Erzeugnisse gehen in großer Zahl nach überallhin hinaus und erreichen das aufgeschlossene Bürgertum, die Universitäten, Bildungsstätten und Schulen. Das vorliegende Kulturprojekt eines allgemein zugänglichen EDV-Katalogs bedeutet einen weiteren Schritt der Kulturstreuung. Fachleute, die den Zugang suchen, können am Ende per Internet alles abrufen, was vorhanden ist. Über das Internet werden unsere Südtiroler Bestände zugleich weltweit eingegliedert und verbreitet. So entsteht mit der EDV-Katalogisierung der Anfang einer virtuellen Bibliothek.
Als B. Brecht angeklagt wurde, einige seiner besten Songs von François Villon in der Übersetzung K. L. Ammers geklaut zu haben, erwiderte er mit dem Verweis, daß Kulturleistungen keinem einzelnen gehören, sondern Leistungen des Kollektivs sind und für alle erbracht worden sind. Und somit auch für alle zur freien Bedienung und Anregung offenstehen. Das KSB-Projekt will eine solche Bedienungsmöglichkeit für alle erschließen. In der mittelalterlichen Kultur besaß der Adel die Waffenkammern für Fechten, Stoßen, Schwertkampf und Reiten. Die Klöster und die Mönche dagegen besaßen die »Waffenkammern des Geistes«. Und das waren die Bücher und Codices wohl auch. Und sind es bis heute geblieben.
Wer nichts aus Büchern und Bibliotheken aufnimmt, ist ein Ignorant. Er nimmt am Wissensvorgang nur auf geringe Weise teil. Darum bleibt sein Horizont beschränkt. Bibliotheksarbeit ist Horizont-Arbeit. Und wir möchten, daß viele ein offenes, aufgeschlossenes, immer wissenderes Weltbild haben. Weil wir sonst in Rückstand und Kulturlosigkeit versinken. Was würden auch die ganzen wissenschaftlichen Werke und Erkenntnisse unserer Zeit bedeuten, wenn sie nicht aufgenommen würden und in unsere Lehrsysteme Eingang fänden? Wenn wir nicht immer tiefere Schlußfolgerungen für Gegenwart und Zukunft daraus ableiten würden? Gott sei Dank, gibt es jene vielen Zweit- und Drittgeborenen, die nicht Erben großer Besitztümer sind, dafür aber Interessenten des Geistes, Reformer und Träger des Fortschritts werden. Was wir überliefern, entnehmen wir aus der Vergangenheit. Aber wir führen es fort um unserer Zukunft willen.
An einem Tage im Jahre 1983 war ein einfacher Mann zu mir gekommen, ich war damals Bibliothekar, und hatte mir erklärt: »Sie lieben Bücher. Hier sind welche.« Und aus zwei Koffern kollerte eine wundervolle alte Sammlung hervor. »Ich will sie Ihnen persönlich schenken«, sagte der Mann. »In Ihren Ansprachen schenken Sie mir lebendiges Wort. Hier ist ein Stück totes. Vielleicht können Sie es zum Leben erwecken.« Totgeglaubtes zum Leben erwecken. Von Homer und Aristoteles bis heute. Es sind alles Stufen. Jakobsleitern für ein interessiertes, wendiges, gebildetes Land.