Ein Kloster auf CD

Nicht gezeichneter Beitrag in: Almanach. Jahresbericht der Stiftung Südtiroler Sparkasse [1997], S. 13-29

Wenn Pater Willibald Hopfgartner, Guardian des Franziskanerklosters in Bozen, den neu erbauten Aufzug nimmt und zwei Stockwerke tiefer fährt, verschwindet er in einer anderen Welt. »Ich vergesse hier jedesmal die Zeit«, seufzt der Klostervorsteher und dreht eifrig die nächste Stahltür auf. Zwischen den auf Schienen rollenden Regalschränken tut sich ein unendlich scheinender Kosmos auf. Buch an Buch gereiht, lagert hier der Schatz jahrhundertealten Wissens.
Auf 230.000 Bände schätzt Pater Bruno Klammer, der frühere Direktor des Franziskanergymnasiums, die Zahl der im gesamten Klosterkomplex eingereihten Bücher. Klammer war der maßgebliche Betreiber des neuen Bibliothekbaus im Franziskanerkloster, auf fünf Stockwerke aufgeteilt und modernst eingerichtet. Die ältesten Bücher, etwa 50.000 bis 60.000, befinden sich noch in der alten Klosterbibliothek – ein Hauptraum und ein dunkles Kämmerlein mit den kostbarsten Stücken. In der Gymnasial-Bibliothek, vom Bestand her der jüngste Trakt, ist ein Bibliothekar, Pater Ambros, derzeit dabei, die einzelnen Bände nach Schlagworten zu erfassen. Zwei Drittel hat er schon hinter sich, »bis einschließlich Religion«.
Pater Ambros leistet damit indirekt die Vorarbeit für ein weit größeres Projekt die Erfassung des nahezu gesamten Südtiroler Buchbestandes in einem einheitlichen EDV-System. Das Projekt mit dem Kürzel EHB (Erschließung Historischer Bibliotheken) wird von Pater Bruno Klammer geleitet und von der Sparkassenstiftung finanziert. Mittels Computer soll nach Abschluß des Projektes praktisch von jedem Ort aus nachgeschaut werden können, wo welches Buch liegt.
Dieser Überblick ist derzeit nicht gegeben. Über 20 Klosterbibliotheken und eine Reihe von diözesaneigenen Bibliotheken gibt es in Südtirol, der Buchbestand wird auf 1,8 Millionen geschätzt. Nach der Franziskanerbibliothek stellt das Priesterseminar in Brixen mit 150.000 Bänden den größten Stock. Rund 80.000 Bände sind es auf Marienberg im Vinschgau, 75.000 in Neustift bei Brixen, um die 70.000 in Muri-Gries bei Bozen. Die Kapuzinerklöster im Land, zum Teil aufgelassen, dürften es zusammen auf 100.000 bringen. Und über die kirchlichen Stätten hinaus denkt Bruno Klammer vor allem an die Einbeziehung möglichst aller Bibliotheksbestände in öffentlicher und privater Hand, etwa die Bozner Stadtbibliothek und Privatsammlungen von Adeligen oder Rechtsanwälten. Und schließlich sollen möglichst auch jene Einrichtungen einbezogen werden, die bereits an einem eigenen EDV-Katalog arbeiten: vor allem die Landesbibliothek »Friedrich Teßmann« und das Brixner Priesterseminar.
Die große Zusammenlegung erfolgt rein virtuell. So wird im Projekt ausdrücklich betont, daß die einzelnen Bibliotheken ihre Selbständigkeit bewahren. Sie können weiterhin selbst entscheiden, ob sie Bücher ausleihen oder Besucher zulassen wollen oder nicht. Und selbstverständlich bleiben die Bücher an ihrem Ort. Die eigentliche Revolution besteht darin, daß mittels Bildschirm der Durchblick möglich werden soll: Nach Eingabe von Buchtitel, Autor oder eines Stichwortes kann per Computer nachgeschaut werden, ob sich ein bestimmtes Buch in einer der Bibliotheken des Landes findet. Oder noch kühner: Ob und wenn, wo sich zu diesem oder jenem Thema aus dieser oder jener Zeit ein Buch finden läßt. Derzeit müßte dafür eine aufwendige, zeitraubende Recherche betrieben werden: Kloster für Kloster abklappern und dort die Karteikästen durchstöbern.
Mit dem Projekt wird zugleich auch ein Grundstein für das Forschen an der Universität in Bozen gelegt. Für die neue Universität wurde – durch Absprache mit der Europäischen Akademie – dasselbe EDV-System gewählt wie für EHB. »Es war ein günstiger Umstand, daß die Auswahl zur gleichen Zeit erfolgte«, sagt Johann Leimgruber von der Brunecker Computerfirma Dator, bei EHB für die technische Beratung zuständig. Die Wahl fiel auf die Software der deutschen Firma Bond, mit deren Programmen schon die bayerische Staatsbibliothek arbeitet.
Das war, neben der Vielseitigkeit des Programmes, einer der wichtigsten Pluspunkte für Bond. In der Münchner Großbibliothek, die für sich den Anspruch erhebt, von jedem neu erschienenen Buch ein Exemplar anzukaufen, liegt nämlich auch ein gutes Stück Südtiroler Bibliotheksgeschichte verwahrt: Es wird davon ausgegangen, daß von 80 Prozent der Bibliotheksschätze Südtirols auch in der bayerischen Staatsbibliothek mindestens ein Exemplar aufliegt. Diese stellt für das Südtiroler Projekt nun ihre Datensätze zur Verfügung. »Eine große Arbeitserleichterung«, schätzt Leimgruber.
Das Pilotprojekt für die Katalogisierung in Südtirol wird demnächst im Bozner Kloster Muri-Gries anlaufen. In der alten Bibliothek herrscht das Flair einer geheimnisvollen Zeit. Auch wenn keine Paterschlappen durch die Gänge schlurfen, keine Spinnweben von den Regalen hängen und keine unheimlichen Tritte auf dem Holzboden knarren, könnte die Bibliothek ein Schauplatz für Umberto Ecos Klosterthriller »Der Name der Rose« sein. Die Holzregale, mit abblätternden Buchdeckeln eng bestückt, ragen bis an die Decke hoch. Um in den höheren Reihen ein Buch zu suchen, muß Pater Placidus, der Bibliothekar, eine alte, verschiebbare Holzleiter erklimmen. Für die Bücher ganz oben führt auf Dreiviertelhöhe eine Balustrade die Wände entlang. Eine schmale gedrechselte Wendeltreppe windet sich ins zweite Stockwerk hinauf. So schwer wiegt das dort gelagerte Wissen, daß unter dem Dach – für das Auge nicht einsehbar – eine Stahlkonstruktion eingezogen wurde, an der die Regale hängen. Zum Boden hin sind sie von einer Blendeleiste abgeschlossen, damit es weiterhin so ausschaut, als würden sie stehen und nicht von der Decke hängen.
Bald wird die Klosterbibliothek von der internationalen Datenvernetzung erreicht. Vier Computer werden aufgestellt, mit der Bond-Software und dem bayerischen
Katalog ausgestattet, ein Arbeitsraum wird eingerichtet, die Beleuchtung – derzeit überaus schonend – muß verbessert werden. Die Katalogisierung ist, obwohl sie Fachwissen und Feingefühl voraussetzt, vor allem eine Geduldsarbeit: Buch für Buch muß von der Wand genommen werden, um die Eintragung in der bestehenden Karteikarte vergleichen zu können. »Es wird«, nennt ein Mitarbeiter den Insider-Begriff, »per Autopsie vorgegangen.«
Obwohl es im Kloster bereits einen händisch erstellten Katalog gibt, herrscht über den eigentlichen Buchbestand keine Sicherheit. »Das ist bei dieser Fülle von Büchern unmöglich«, bestätigt auch Benno Malfer, Abt von Muri-Gries und Mitglied im Fachbeirat des EHB-Projektes. Für die EDV-Erfassung muß kontrolliert werden, ob ein im Katalog angeführtes Buch wirklich noch da ist oder ob es sich um eine »Karteileiche« handelt. Die Angaben im Katalog müssen mit jenen auf dem Buchdeckel verglichen werden.
Dann wird nachgeschaut, ob das Buch schon in der bayerischen EDV-Vorlage erfaßt ist. Wenn ja, kann der Text in den Südtiroler Katalog kopiert und notfalls angepaßt werden: Stückzahl der hier aufliegenden Bände, Jahr der Auflage, Seitenzahl, Art der Ausgabe. Sonst wird eine neue Datei angelegt, immer mit denselben Angaben: Autor, Titel, Schlagwörter, unter denen das Buch von künftigen Benutzern am leichtesten gefunden wird. Bei der Übernahme in den Katalog muß das hochkomplexe Regelwerk RAK-WB eingehalten werden, damit sich das Südtiroler System auch mit anderen Katalogen, etwa in Bayern, Österreich oder im Trentino, zusammenschließen und ans Internet angebunden werden kann.
Die »Verschlagwortung«, wie es im Bibliothekarsjargon heißt, ist eine Kunst für sich. Sie erfordert, für die älteren Bücher, Latein- und Griechischkenntnisse. So war Pater Bruno auch überaus glücklich, daß der EDV-Berater Johann Leimgruber humanistisch gebildet ist. So hilfreich die EDV-Erfassung in Zukunft sein kann, so anfällig ist sie: Ein einziger Tippfehler genügt, um ein Werk unauffindbar zu machen, weil der Computer nur nach eindeutig richtig geschriebenen Vergleichsdaten suchen kann. Wie aber soll der Autor Johann Aventin eingegeben werden, wenn er oft als »Aventinus« latinisiert wird und in Buchtiteln sogar mit dem Genitiv »Aventini« aufscheint? Mit Crusius ist es ebenso: mal heißt er Crusius, mal Krause. Für die Verschlagwortung erfordert das einen Spagat: für alle irgendwie denkbaren Varianten einen Code zu finden.
Eine andere Schwierigkeit lauert bei der Eingabe der Stichwörter: Bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts waren die Titelbilder überaus umständlich und unklar beschriftet – Widmung, blumige Einleitungen, barocke Verschlüsselungen machen es schwer, Autor, Sachgebiet und Inhalt zu identifizieren. Das Verlagswesen ist zu diesem Zeitpunkt weitgehend identisch mit dem Druckergewerbe. Erst ab circa 1820, nachdem sich allmählich eine eigene Verlagskultur entwickelt hat, bildet sich auch eine klarere, schlüssigere Buchgestaltung heraus. »Bei älteren Büchern«, sagt Abt Benno, »steht oft ein ganzer Roman auf der Titelseite.«
Im Bond-System darf es in Zukunft nur eine Info-Seite pro Buch sein. Wenn die Arbeit in Muri-Gries abgeschlossen sein wird, sollen die 60.000 bis 70.000 Bände der Klosterbibliothek auf einer einzigen CD-Rom Platz gefunden haben. Mit einem ganzen Jahr Arbeit an vier Computern gleichzeitig wird selbst in den hoffnungsvollen Prognosen gerechnet. »Wie lange es wirklich dauert«, sagt der Mitarbeiter für die EDV-Beratung, »weiß kein Mensch.« Projektleiter Bruno Klammer hofft darauf, nach Abschluß der Erhebung in Muri-Gries jeweils mit zwei Dreier-Teams an zwei Stellen gleichzeitig arbeiten zu können, »damit es ein bißchen schneller weitergeht.« Derzeit arbeitet er an »einem Kataster der Bibliothekslandschaft in Südtirol«, um genau aufzulisten, wo wie viele Bestände liegen könnten.
Die Katalogisierung kommt einer Durchforstung der kirchlichen und klösterlichen Bildungsgeschichte Südtirols gleich. Von den Kapuzinerklöstern sind Eppan, Klausen und Mals aufgelöst, das Sterzinger und Bozner Kloster haben keine Bibliotheken mehr. Die alten Bücher konnten nur zum Teil gerettet werden: Von Mals, das früher zur Schweizer Diözese Chur gehörte, sind wertvolle Bestände in die Schweiz verfrachtet worden, den Rest konnte Pater Bruno in der Franziskanerbibliothek unterbringen. Ebenso dort untergebracht wurde die aufgelöste Bibliothek des Bozner Kapuzinerklosters. Von anderen Klöstern, etwa Säben, weiß man wenig über die Geheimnisse, die in den alten Bibliotheken verborgen sind. Dasselbe gilt für viele Pfarrbibliotheken, etwa jene des Innichner Stiftes oder der Bozner Propstei. »Bei vielen muß man erst sehen, was sie verbergen.« Pater Bruno erhofft sich von der Katalogisierung auch Aufschluß über die Geschichte der Wissensentwicklung in Kirche, Adel und Städtewesen. Die Bibliotheken sind ein Abdruck der Geschichte ihrer Stätten und ihrer Zeit.
Am Beispiel Muri-Gries: Die Geburtsstunde des Klosters fällt mit einem Exodus zusammen. Die Augustiner Chorherren, die ab 1163 ihren Sitz in der Au südlich von Bozen hatten, wurden immer wieder von Überschwemmungen von Etsch, Eisack und Talfer heimgesucht. Die Bozner Wassermauern waren noch nicht gebaut, die Flüsse konnten frei mäandrieren. Die Talfer etwa schlängelte sich den Guntschnaberg entlang immer weiter nach Moritzing hinunter. Unter dem jetzigen Kloster Muri-Gries wurden bei Kellerausgrabungen Schichten von Talferkiesel gefunden.
Für die Chorherren war es ein ungemütlicher Zustand. Die ständig neu zu errichtenden Wasserschutzbauten »verschlangen große Geldsummen und brachten den Konvent in arge finanzielle Bedrängnis.« So steht es im Buch »Das Kloster Gries« von Ambros Trafojer. Im Vergleich zu österreichischen oder bayerischen Klöstern waren die Südtiroler Stifte finanziell ohnehin weniger gut gestellt: Durch das freie Bauerntum in Tirol fehlte eine der wichtigsten Einnahmequellen – das erbuntertänige Volk. Die Sammeltätigkeit für die hauseigene Bibliothek war entsprechend bescheiden.
1406 mußten die Chorherren ihr Kloster verlassen, »weil das Wasser, genannt die Talvern und Eisagkh das wirdig Gotzhaus ganz und gar versuret und verderbt hat«, wie Herzog Leopold in einer Urkunde notieren ließ. Leopold, ein Bruder des Friedrich mit der leeren Tasche, schenkte den Chorherren die damalige Burg Gries. Diese Burganlage an der Stelle des heutigen Klosters Muri-Gries war vom Tiroler Gründerfürsten Meinhard II. als exponiertester Vorposten in seinem Kampf gegen die Bozner Bürgerschaft erbaut worden. Der Umzug befreite die Chorherren zwar aus ihrer mißlichen Lage, für die Bibliothek aber bedeutete er einen ersten Einschnitt.
Das wurde auch in den folgenden Jahren nicht besser. Wieder fehlte den Chorherren das Geld für die Investition ins Geistige: Sie mußten die Burg umbauen, später die Kirche neu bauen und waren ständig in Geldnot. Für die Bibliothek wurde das Notwendigste angekauft: Predigtliteratur, Brevierbüchlein, später allmählich auch Rechtsliteratur, um in den sich häufenden Rechtsstreitigkeiten um Grundstücke und Pfründe beschlagen genug zu sein. Auch im kleinen freilich spiegelt sich das Klosterleben wider: Es genügte die Anwesenheit belesener Patres, die ihre privaten Bücher dem Kloster vermachten, um den Bestand innerhalb deren Lebenszeit deutlich anzureichern. »Wenn ein Pater historisches Interesse hatte, dann hat sich das auch auf die Bibliothek niedergeschlagen«, sagt Abt Benno Malfer.
Erst gegen Ende des 17. Jahrhunderts kam das Grieser Klosterleben zu einer vorübergehenden Blüte. Die Ausbildung der jungen Chorherren wurde verstärkt und gezielt betrieben, mit entsprechendem Niederschlag auf die Ankäufe für die Klosterbibliothek. Der Aufschwung dauerte aber nicht lange. Das Kloster Gries erlebte seinen zweiten tiefen Einschnitt, wie alle anderen kirchlichen Einrichtungen im Lande, während der Regierungszeit von Joseph II. Die Wiener Regierung nahm die miserable Finanzlage des Klosters zum Anlaß, nach dem Tode von Probst Albert Prack die Abtwahl zu untersagen. Von 1781 bis 1790 war das Kloster ohne Führung. Der Aufklärungsfürst ließ alle Klöster aufheben, die keinen sozialen Nutzen abwarfen: In Bozen traf es die Cölestinerinnen und die Dominikaner, während das Kapuzinerkloster wegen der Volksseelsorge und die Franziskaner wegen ihrer Schultätigkeit verschont wurden. Die Augustiner Chorherren, von der Aufklärung ebenfalls für nutzlos erachtet, traf es vorerst nur in Neustift; Gries konnte der aufklärerischen Bürokratie entschlüpfen.
Der zweite Schlag aber, die napoleonische Herrschaft und bayerische Besetzung Tirols, traf die Klöster umfassender und härter: Die Bayern vertrieben nun auch die Grieser Chorherren, säkularisierten das Benediktinerkloster Marienberg, plünderten Neustift. Große Teile der Bestände wurden auf Anordnung der Bayern mit Pferdefuhrwerken nach Innsbruck oder nach München gekarrt. »Die Staatsbibliothek ist das Ergebnis der Säkularisation«, sagt Benno Malfer. Es ist, neben der Verbreitung der einschlägigen kirchlichen Literatur in ganz Europa, einer der Gründe, warum jetzt die Datenbank der Münchner Staatsbibliothek so sehr den Südtiroler Verhältnissen entspricht. Nur 20 Prozent der Südtiroler Bücher dürften, gemäß Schätzung, für die Bayern neu sein.
Die Verluste waren beachtlich. Zwar verfügte Kaiser Franz I. von Österreich bereits ab 1816 die Wiedergutmachung der bayerischen Raubzüge und ordnete die Rückführung der Klostergüter an. Aber diese fiel halbherzig aus. Aus Marienberg waren alle Handschriften und Inkunabeln (Wiegendrucke) verschwunden, wie die allerersten, besonders kunstvoll angefertigten Druckwerke bis 1500 heißen. Nach der Wiederherstellung des Klosters kam nicht einmal die Hälfte der Schriften und Bücher zurück. Im Franziskanerkloster schätzt Pater Bruno, daß von einst 900 Inkunablen gerade 30 gerettet werden konnten. In Neustift fehlten auch nach der Rückführung 135 Handschriften und 700 Inkunabeln.
Das Grieser Kloster stand bis 1845 leer – mit entsprechenden Lücken im Buchbestand. »Dazugekommen ist in dieser Zeit sicher nichts, eher ist etwas weggekommen«, sagt der heutige Abt. Dann wurde die Klosterburg erneut Schauplatz eines Exodus, diesmal umgekehrt: 1841 waren in Muri in der Schweiz, im Gebiet von Zürich und Luzern, die dortigen Benediktiner aus ihrem Kloster vertrieben worden. Weil Muri die erste Klostergründung der Habsburger war, als diese noch Provinzfürsten im Badischen waren, gab es nun eine großzügige Rettungsaktion: Den Schweizer Patres wurde das von den vertriebenen Chorherren verwaiste Kloster in Gries angeboten. Seitdem trägt es den heutigen Namen Muri-Gries, der Abt nennt sich, strenggenommen, »Abt von Muri und Prior von Gries«. Seit 1839 ist die Klosterbibliothek auch mit der Pfarrbibliothek vereinigt. Unter den Schätzen befinden sich etwa 60 Inkunabeln und 100 Handschriften.
Die EDV-Katalogisierung beschränkt sich vorerst auf Bücher, da die Aufarbeitung der Handschriften zu aufwendig wäre. Dennoch verspricht das Projekt die Hebung so manchen vergessenen Schatzes. Schon die kirchliche Gebrauchsliteratur ist voller Köstlichkeiten. So sind die Taschenbücher der damaligen Zeit wirklich so klein, daß man sie in die Tasche stecken kann. Beispiele: »Geistige Trostworte für Betrübte, Kranke und Sterbende«, wo der Herr Pfarrer schnell nachschlagen kann, wenn er nicht mehr weiter weiß. Oder: »Resolutio Pastoralis«, alle möglichen Ratschläge für alle möglichen seelsorgerischen Wehwehchen.
Eine Vorstellung von der Kirchenliteratur vermittelt auch das Stichwortregister: Betrachtung, Brevier, Eucharistie, Feengeschichte, Fegfeuer, Vaterunser. Oder wahllos in die historische Reihe aus jüngerer Zeit gegriffen: »Das Tiroler Jägerregiment Kaiser Franz Joseph, 1848-1849«. Von der »Cotta’schen Buchhandlung«, dem heutigen Cotta- Verlag, herausgegeben wurde die »Geschichte der Grafschaft Tirol«, Ausgabe 1806: Sie ist heute noch eine Fundgrube für Historiker. Und schließlich für Juristen: »Codice dei delitti e delle gravi trasgressioni politiche«, Wien-Rovereto 1804.
Als Juwel der Südtiroler Bibliotheken gilt Neustift bei Brixen. Der architektonisch ausgefeilte Hauptraum mit seinen kunstvollen Stukkaturen birgt 43 Schränke, die nach 43 Sachbereichen geordnet sind. Der Bestand gilt als der »weltlichste« unter den Klosterbibliotheken – die Patres waren aufgeschlossen und achteten beim Ankauf ihrer Literatur auch auf inhaltliche Breite. Große Bedeutung schreibt Pater Bruno Klammer der Bibliothek des Priesterseminars zu: »Mit deren Büchern wurden viele Generationen von Seelsorgern und Priestern herangebildet. Deren Wissen ging dann von den Kanzeln und über den Religionsunterricht ins Volk hinaus.«
Im Franziskanerkloster verschlägt es Pater Willibald, wenn er sich in die unteren Stockwerke fahren läßt, schon öfter mal die Sprache. Das Kloster war 1291 abgebrannt, so daß das älteste Buch aus dem Jahr 1318 stammt. Eines der wertvollsten Bücher dürfte eine Lutherbibel sein, die der Klostervorsteher voller Ehrfurcht in die Hand nimmt: Jahrgang 1560, mit Holzstichen verziert, die von Hand eingefärbt wurden. Von Johannes Aventin, lateinisch Aventinus, stammt die »Bayrische Geschichte der Humanisten«. Die Kapitelunterteilung gewährt einen Einblick in die Geschichtsschreibung der damaligen Zeit: »Von den Weibern«, ist ein Kapitel überschrieben, »Vom Ursprung des alten Deutschlands« ein anderes. Auf Seite 269 findet sich ein Kapitel zur Besiedlung des südlichen Tirols: »Wie die alten Schwaben/ Langobarden genannt/ aus der Kron Ungarn jetzt ins Weltschtirol Zügen«. Der Beginn des Buches aber ist, typisch für das Mittelalter, nicht Bayern oder Deutschland, sondern der Erschaffung der Welt gewidmet. »Das Denken damals war nicht national«, sagt Pater Willibald.
Die Franziskanerbibliothek ist eine bibliophile Schatzkammer. In einem Buch von Hieronymus Bock ist der Drucker beim Handkolorieren mit der Farbe ausgerutscht – der Strich geht über die ganze Seite. Ein 50bändiges Tierlexikon ist mit kolorierten Kupferstichen illustriert – Tier für Tier, »besser als jede Fotografie« (Pater Willibald). 60 Bände hat »Das größte Universallexikon aller Wissenschaften und Künste, welche bisher vom menschlichen Geist erfunden worden sind«. Zwölf Seiten lang wird etwa über die »Wurmtherapie« Auskunft gegeben, einige Seiten weiter über den chinesischen Kaiser Xi Chum. Auch die wissenschaftliche Publizistik ist noch dem Erzählton verschrieben: Zur Wurmtherapie gibt es etwa einen anschaulichen Bericht, wie eine Klosterfrau von einem entsetzlich langen Exemplar gequält und schließlich geheilt worden war.
Wenn in Ecos Roman ein heiteres Buch des Aristoteles verschwinden mußte, weil sonst die Schwere von der Welt genommen worden wäre, hat im Franziskanerkloster mit Verspätung regelrechtes Ketzertum Unterschlupf gefunden: In einem Schrank im allerheiligsten Bereich der Klosterbibliothek verwahrt Pater Willibald Bücher, die dem Kloster von den offenbar ahnungslosen Erben liberaler Bozner Bürger vermacht wurden, »wahrscheinlich Freimaurer« (Pater Willibald). Unter der »Feind literatur« befindet sich ein Originaldruck von Immanuel Kants »Kritik der reinen Vernunft«, Ausgabe 1790. Ein Buch, betitelt mit »La Bastille« und herausgegeben 1789 (!), enthält genaue Lagepläne des Pariser Gefängnisbaus, der nach der Stürmung durch die Volksrnassen zum Symbol der Französischen Revolution wurde. »Baff« aber war der Pater, als er ein Werk mit dem unscheinbaren Titel »Ausführung des Plans und Zwecks Jesu« von Hermann Samuel Reimarus in die Hand bekam. In der Leben-JesuForschung von Albert Schweitzer hatte er zufällig gerade davon gelesen, daß Reimarus – von Lessing verlegt und dann nie wieder neu erschienen – der erste Kirchenkritiker war, der »mit Haß über die Bibel geschrieben hat«. Vierbändig, datiert 1783.
Dann kommt es immer ärger: Ein reformatorisches Buch von Antonio Rosmini aus Rovereto, 1863, trägt den Titel: »Delle cinque piaghe della Santa Chiesa« (Die fünf Übel der Heiligen Kirche). Daneben ein »Journal für Freimaurer« und »Ganz neue Entdeckungen von der Freimaurerei«.
Neben dem wissenschaftlichen Wert bergen die Klosterbibliotheken auch in materiellen Kategorien ein Vermögen. Für eine besondere Bibel-Ausgabe mit einem Dürer-Holzstich der Apokalypse, deren Aufbewahrungsstätte aus Sicherheitsgründen nicht genannt werden soll, hat eine amerikanische Stiftung schon Anfang der 70er Jahre 200 Millionen Lire geboten. Auch weniger sensationelle Unikate werden von Antiquariaten für zwei bis 50 Millionen Lire gehandelt. Ein besonders berühmtes Werk ist die Chronik des Priors von Marienberg, Pater Goswin (1350-1390), das – wegen seiner lebendigen und anschaulichen Berichterstattung als wichtiges Dokument der Tiroler Geschichtsschreibung gilt und erst jüngst wieder neu herausgegeben worden ist.
Nicht immer ist der Wert der Bücher aber erkannt worden. Vor allem im 19. Jahrhundert hat der geistige Niedergang in den Klöstern auch zu einer Verwahrlosung der Bibliotheken geführt. Die Bücher wurden oft um Spottpreise an Antiquare verscherbelt, in Einzelfällen sogar weggeworfen oder von schwachgewordenen Mönchen einzeln verschachert. Pater Bruno Klammer ist es auch in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder passiert, daß er bei Antiquaren oder auf Flohmärkten Bücher aus alten Klosterbibliotheken fand. Eine Ovidausgabe von 1500 konnte er, weil sich auch der Verkäufer des Werts nicht mehr bewußt war, um 10.000 Lire zurückkaufen.
Vor allem aber gingen die Ankäufe in den Klöstern mit dem Verlust der geistigen Führungsrolle zurück. Viele Klöster beschäftigten nicht einmal mehr Bibliothekare, und die wenigen Neuanschaffungen spiegelten die Orientierungsschwierigkeiten in einer veränderten Welt wider: Im 19. Jahrhundert nimmt in den Klosterbibliotheken die erotische Literatur zu, mit peniblen Sündenkarteien für diesen oder jenen sexuellen Akt in dieser oder jener Häufigkeit. »Man sieht«, sagt Bruno Klammer, »daß das Bewußtsein um die geistige Strahlkraft verlorengegangen ist und sich die Kirche auf Rückzugsgefechten befand.«
Die Einspeisung in ein umfassendes EDV-Netz ist nicht nur symbolisch eine Öffnung: Das alte Wissen wird abgetreten an die Datennetze der modemen Computerwelt. Zugleich wird damit die Hoffnung verbunden, daß die alten Bestände in ihrem Wert neu erkannt werden. In Muri-Gries, wo das Projekt starten wird, werden wieder Bücher angekauft – für 20 bis 30 Millionen im Jahr. In der Franziskanerbibliothek überlegt Pater Willibald, wie eine Klosterbibliothek weiterwachsen kann. Für den Schulbetrieb wird ohnehin ständig dazugekauft: In den Regalen stehen die Werke von Nietzsche und Marx neben Kommentaren zur Ilias. »Die Bibliothek ist wichtig für den geistigen Hintergrund unserer Professoren«, sagt Direktor Wolfgang Malsiner. Mit den Schülern werden gezielt auch Schnupper-Stunden in der alten Bibliothek abgehalten. »Die meisten sind begeistert, wenn sie diese alten Bücher und Schriften sehen.«
Mittlerweile führt Pater Willibald aber auch eine Tradition weiter, die spätestens seit dem 19. Jahrhundert neben dem Buch eine eigene Bedeutung gewonnen hat: die Zeitschriften. Ausgaben etwa, in denen Jesuitenmissionare Berichte aus aller Welt schrieben, haben selbst für die heutige Forschung einen ethnographischen Wert bekommen. Durch besondere Gastfreundschaft hat Bruno Klammer zudem die Klosterbestände massiv erweitert: Er hat neben den Bozner und Malser Kapuzinerbeständen auch die Bibliothek des Franziskanerklosters Lechfeld in der Nähe von Augsburg im Franziskaner-Neubau untergebracht.
Unter der Gastliteratur finden sich die »Fliegenden Blätter« von 1840 bis zum Ersten Weltkrieg – es handelt sich um die Zeitschrift, in der lange Zeit Wilhelm Busch und nach seinem Tode andere Satiriker ihre Arbeiten veröffentlicht haben. Zu einem »Magazin für Entdeckungen« mit genauen Beschreibungen gibt es eine Anlage mit Bauplänen und Anleitungen, etwa für die Herstellung eines Ufos oder die Nachahmung chinesischer Tusche und die Fälschung von Mahagoni. Die 21 bändigen »Reisebeschreibungen« sind jene Literatur, aus der Kant, der sich nie aus Königsberg fortbewegen wollte, seine Weltkenntnis bezog. Dazu gibt es die Gesamtausgabe der österreichischen Militärzeitung und der Zeitschriften des österreichischen Alpenvereins mit präzisen Wegbeschreibungen und Gletscherabbildungen.
Als »absolute Sensation« bezeichnet Pater Willibald ein »Journal für Fabrik, Manufaktur, Handlung und Mode«, das zwischen 1788 und 1805 erschienen ist. Es enthält neben viel fach- und kaufmännischem Wissen Seite für Seite eingelegte Stoffproben für den interessierten Kunden. Das Brixner Kirchenblatt gibt es ab dem Jahrgang I anno 1856. Davon beeindruckt hält Pater Willibald auch das Katholische Sonntagsblatt nicht mehr für vergänglich – künftige Generationen sollen es in gebundener Form und vollständig wiederfinden.
Mit dem Computer wird die alte Welt nun neu erschlossen. Der Stiftsbibliothekar in Neustift, Pater Martin Peintner, hat in einem Interview mit »südtirol heute« einen schönen Vergleich für das Aufbewahren der alten Bücher gewählt: Er werde oft gefragt, was denn all die Bücher sollen, man könne sie ja auf keinen Fall mehr alle lesen. Er antworte dann immer: »Bibliotheken sind wie ein Supermarkt des Geistes. Haben Sie in einem Supermarkt schon alles gegessen? Wichtig ist, daß es da ist und daß Sie es finden, wenn Sie es brauchen.«

Quellenhinweis
– »Stifte und Klöster. Entwicklung und Bedeutung im Kulturleben Südtirols«, herausgegeben vom Südtiroler Kulturinstitut, Bozen 1962
– »Biblos-Schriften«, Band 153, Aufsatz über »Die wissenschaftliche Bibliothek. Traditionen, Realitäten, Perspektiven«, Heinz Hauffe, Karin Heller, Walter Neuhauser (Hrsg.), Tyrolia-Verlag Innsbruck-Wien 1990
– »Das Kloster Gries«, Ambros Trafoier, Selbstverlag des Klosters Muri-Gries, 1982, 2. Auflage