Ein Schatz wird gehoben

Das EHB-Projekt zur Erfassung historischer Buchbestände legt historische, soziale und kulturelle Netzwerke offen.
Bruno Klammer

Aus: Almanach. Jahresbericht der Stiftung Südtiroler Sparkasse (2003), S. 55-59

Im Rhythmus von einer konstanten Arbeitsleistung mit dreißigtausend Interneteintragungen im Jahr entwickelt sich das von der Stiftung Südtiroler Sparkasse federführend finanziell geförderte Projekt »Erschließung historischer Buch- und Bibliotheksbestände« des Landes (EHB) rasch fort. In ihm werden die fachlichen Grundlagen für die Bestandsnutzung und Forschung im Rahmen dessen gelegt, was an historischem Erbe in der Buchlandschaft Südtirols seit 1450 erhalten ist. Fast der gesamte Bestand dieses Bücherschatzes war bis zur Gründung des EHB-Stiftungsprojekts in Stiften und Klöstern, in privaten Sammlungen und in diversen Trägerschaften der Diözese, in Dachkammern, Bibliotheken und Kellern verschlossen. Eine Wende brachte erst eine Diözesanvereinbarung Stiftung Südtiroler Sparkasse (Projektförderer) – Südtiroler Bildungszentrum (Verwaltungsansiedlung) – Diözese Bozen-Brixen aus dem Jahre 1997 (schriftlich mitgeteilt in Folium Dioecesanum 1998/4).
Nach sechs Jahren Aufnahmezeit erreichen die erschlossenen Bestände zirka 220.000 Katalogsätze. Der Rechenschaftsbericht 2003 an die Stiftungsverwaltung weist alle bisher erfassten Standorte und Mengen, so wie sie derzeit im Netzwerk stehen, sorgfältig aus. Die Bestände sind abrufbar unter www.ehb.it.
Die Projektdurchführung hat ab 2001 die Fachgenossenschaft Bibliogamma übernommen. Diese wickelt alle Vertragsverpflichtungen und die vielen Vertragsregelungen ab, welche das Projekt mit seinen zahlreichen Ansprechpartnern verbinden (Behörden und Landesämter, Anstellungs-, Lohn- und Arbeitsstellen, Dienstleister im Telecom-, Software- und Hardwarebereich, Lizenz- und Betreuungsverträge, Übereinkommen mit den Bestandseigentümern u.v.a.). Von seiten der Stiftung Südtiroler Sparkasse ist dem Projekt ein Beirat, dem unter anderen Diözesanvertreter, Vertreter der Ordensgemeinschaften und Landesinstitutionen angehören, zur Seite gegeben, um dieses in inhaltlicher Hinsicht zu steuern sowie auf einer breiteren Basis und repräsentativ zu verankern.
Die Projektbedeutung kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Erstens einmal wirkt die EHB-Katalogisierung bestandsöffnend. Sie ermöglicht für die Zukunft das Herankommen an die Werke. Vieles von dem, was früher in aller Welt nachgefragt werden musste, ist im Lande selbst vorhanden und über EHB neu zugänglich. Die EHB-Tätigkeit wirkt weiters bestandserhaltend. Seit dem Anlaufen von EHB sind zahlreiche Bestände entstaubt und neu aufgestellt worden. Unter Seelsorgern, Pfarrräten, Gemeindezuständigen, in Klöstern und bei Privateigentümern hat eine bedeutsame Bewusstseinsbildung stattgefunden, so dass sich immer mehr Verantwortliche gegen Bestandsveräußerungen zur Wehr gesetzt und in Richtung Bestandssicherung gewirkt haben und wirken. Einzelne Gemeinden haben mittlerweile angefangen und weisen ihrerseits Beträge aus für die Bestandspflege.
Die meisten Bibliotheksbestände befinden sich zum Zeitpunkt des EHB-Starts in großer Unordnung und besitzen keine ausreichenden Kataloge mehr. EHB stellt, drittens, fest, was an Beständen zum Zeitpunkt des Erfassens vorhanden ist, ordnen und katalogisieren es nach fachwissenschaftlichen Kriterien (RAK-WB). Das Projekt setzt, viertens, je mehr es fortschreitet, eine Menge Impulse in Bewegung. Obwohl noch eine Reihe von Vorarbeiten zu leisten ist (Homepage, ein rascherer Katalogzugriff, die Schaffung von Ausleihmodalitäten, eine breite Bewusstseinsbildung in der kulturellen Öffentlichkeit, Dienstleistungsangebote für Umgang und Benutzung, die Präsenz in Fachzeitschriften, Angebote an Diplomanden, Forschungsvergaben, die Verbindung mit in- und ausländischen Katalognetzen), zeichnen sich bereits neue Projektfolgen ab: der Stellenwert des Projekts im Rahmen der Landeskultur, einmal, und die große gesamtkirchliche Kulturrelevanz der Tiroler und Südtiroler Bestände im Zusammenhang mit dem Konzil von Trient.
Die Buch- und Bibliotheksbestände sind die eigentliche Quelle, wenn es darum geht, die Mentalitätsgeschichte des Landes zu erfassen. Nach den Buchwerken sind die Menschen jahrhundertelang, Epoche für Epoche, erzogen und geformt worden. Was Seelsorgern und Amtszuständigen an die Hand gegeben wurde, danach richtete sich das Verhalten der Menschen aus. Nach dem, was ihnen in Rechtswerken, von der Kanzel, in der Katechese, an moralischer Unterweisung, aber auch an medizinischen, ökonomischen Ratschlägen, an Brauchtum im Jahreskreis etc. als Leitfaden geboten wurde, wurden sie geprägt und gemessen. Auch gemaßregelt bisweilen. Gerade die Dichte im Vorhandensein bestimmter Werke gibt einen entscheidenden Aufschluss darüber, was zu einer bestimmten Zeit an Denk- und Normsystemen galt. Schon ist an den Beständen abzusehen, wie ganz unterschiedliche Kräfte den tirolischen Raum zu unterschiedlichen Zeiten geformt haben.
Je weiter Bestandsvergleiche und Bestandseinsichten vorankommen, desto deutlicher treten die historischen, sozialen und kulturellen Netzwerke hervor. So gibt es beispielsweise Netzwerke verschiedener Ordensgemeinschaften (Jesuiten, Benediktiner, Dominikaner, Franziskaner und Kapuziner). Ein Netzwerk der Pfarreien. Netzwerke des Adels, der Verwaltung, des Unterrichts, ein medizinischpharmakologisches Netzwerk u.a. Aber auch Sammlungen ohne spezifischen Schwerpunkt, aus Erbschaft, Liebhaberei, günstigem Erwerb, aus Bestandsauflassungen und aus der Müllabfuhr haben sich gebildet.
Bibliogamma mit seinen drei Kernmitgliedern (P. Dr. Bruno Klammer, Dipl. BibI. Manfred Schmidt, Dr. Walter Garber) und seinen sechs weiteren Projektmitarbeitern und Mitarbeiterinnen (Dr. Gabriele Muscolino, Frau Dr. Dipl. Bibl. Ursula Kieser, Dipl. Bibl. Sandra Frank, Dr. Reinhard Domanegg, Dr. Hans Kienzl, Dr. Stefan Morandell) betreibt eine intensive Bestandserfassung. Jenseits dieser Erfassung ergeben sich eine Reihe von Zukunftsfragen. Nicht nur riesige Klosterbestände (Klosteraufhebungen Josefs II. und später im Gefolge der Säkularisation), auch Privatbestände, z.B. adeliger Familien, befinden sich außer Landes. Sie gehören zum Vollbild des Landes dazu. Eine weitere Frage ist jene der künftigen Bestandsverwaltung. Die EHB-Bestände sind mit allgemein üblicher Bibliothekskultur nicht zu verwalten. Sie erfordern altphilologische Kenntnisse, Umgang mit humanistischen, barocken, klassischen Sprachmodellen, eine gediegene theologisch-philosophische Bildung und Kenntnis. Entscheidend wird auch, das Buch als Dokument offen zu legen. Nicht wie eine Urkunde im Jahre eines Kaufvertrags, sondern mit und in seiner ganzen Vor- und Nachgeschichte. Und gänzlich offen geblieben ist bisher die unglaubliche Vernetzung des Landes im europäischen Kulturkontext. Die Fülle der Druckorte von Prag bis Toledo, von London bis Rom reiht den Landesraum in einen gesamteuropäischen Kulturraum ein. Trient war zur Zeit des Konzils eine tirolische Diözese. Der weltkirchliche Einfluss sowohl der tirolischen Landesfürsten als auch der bischöflichen und landesfürstlichen Buchpolitik, wie er sich an den Beständen abzeichnet, stehen als Untersuchungsdesiderat noch aus.
Wenn je ein Netzwerk faszinierend war, dann ist es das der Bibliotheksbestände. Die große Antikenbibliothek zu Alexandrien ist untergegangen, und viele sind es seitdem. Denn das Buch ist ein verwundbares Gut. Die EHB-Erschließung ist ein Weg, um Landeskultur zu erhalten und neu zu verlebendigen. Dafür gebührt der Stiftung Südtiroler Sparkasse unter ihrem früheren (Alt-Sen. Dr. Hans Rubner) und unter ihrem jetzigen Präsidenten, Honorarkonsul RA Dr. Gerhard Brandstätter, mehr als nur einmaliger und mehr als nur oberflächlicher Dank. Längst strahlt das EHB-Projekt über Südtirol hinaus. Ein neuer und zentraler Aspekt beginnt in der Alpenregion zu leben.